Bequeme Comandantes

El Salvador, zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg: Die ehemalige Guerilla FMLN verspieltdie Chance, sich zu einer linken lateinamerikanischen Massenpartei zu entwickeln

Natürlich werden die Armen weiterhin FMLN wählen. Aber sie sind nur Wähler, keine organisierte Basis

Worin unterscheiden sich Abgeordnete der ehemaligen Guerilla „Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí“ (FMLN) von anderen Abgeordneten des salvadorianischen Parlaments? In gar nichts. Sie tragen genauso Anzug und Krawatte wie alle anderen. Sie kungeln genauso mit Ministern und mit Abgeordneten des politischen Gegners. Sie wechseln genauso oft die Seite und, wenn nötig, auch die politische Partei. Sie geben dieselben inhaltsleeren Erklärungen ab. Zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs sind die einstigen Rebellen perfekt an das politische System El Salvadors angepasst.

Damals, am 31. Dezember 1991, gab es noch Hoffnung. Fünf Minuten vor dem Jahreswechsel hatte der aus dem Amt scheidende UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuellar Regierung und FMLN so weit gebracht, dass sie eine verbindliche Absichtserklärung unterschrieben: Bis zum 16. Januar 1992 sollte ein abschließender Friedensvertrag ausgearbeitet sein. Am 1. Februar begann die Demobilisierung der größten und stärksten Guerilla Zentralamerikas.

Der Friedensvertrag war nicht perfekt. Vor allem die Kapitel über wirtschaftliche und soziale Fragen waren schwammig formuliert. Aber es war doch das am weitesten reichende Abkommen, das in Lateinamerika je zwischen einer Regierung und einer Guerilla geschlossen wurde. Und es hatte durchaus positive Konsequenzen: Die Stärke der Armee wurde halbiert, besonders repressive Elitebataillons ganz aufgelöst. Militarisierte Polizeieinheiten wurden durch eine Zivile Nationalpolizei ersetzt. Das einst nahezu allmächtige Militär spielt heute keine politische Rolle mehr.

Am Friedensvertrag lag es also nicht, dass aus der FMLN eine Partei wie viele andere wurde. Auch an Unterstützung durch die Wähler mangelte es nicht. Bei ihrer ersten Wahl 1994 wurde die Exguerilla auf Anhieb zweitstärkste Partei im Parlament. Seither ist sie ständig gewachsen und stellte zuletzt die größte Fraktion. Die Präsidentschaftswahl von 1999 verlor sie nicht gegen den rechten politischen Gegner, sondern gegen sich selbst. Wegen interner Querelen boykottierte die Hälfte der FMLN den eigenen Kandidaten. Genauso ging kurz vor Weihnachten auch der Status der stärksten Fraktion verloren: Sechs dissidente Parlamentarier wurden einfach ausgeschlossen. Die Partei demontiert sich selbst.

Konnte man 1992 etwas anderes erwarten? Ja und nein. Ja, weil die FMLN als Partei gute Voraussetzungen hatte. Nur weil sie über eine breite Verankerung in der Bevölkerung verfügte, konnte sie zwölf Jahre Bürgerkrieg gegen eine zehnmal stärkere Armee überstehen. Wie keine andere Guerilla hatte die FMLN es in den letzten Jahren des bewaffneten Konflikts verstanden, militärischen Druck mit Verhandlungsgeschick zu kombinieren. Sie war für die rein politische Auseinandersetzung gerüstet.

Nein, weil die FMLN-Kader denkbar schlechte Voraussetzungen mitbrachten. Die meisten kamen aus der städtischen Mittelschicht und hatten sich als Schüler oder Studenten der Guerilla angeschlossen. Kaum einer verfügte über eine solide politische Bildung. Während der Jahre in den Bergen mussten einfach gestrickte Handbüchlein des Marxismus-Leninismus genügen. Denken war wenig gefragt. Es gab nur Befehl und Gehorsam. Abweichler wurden erschossen.

Die FMLN hat in zehn Jahren nichts getan, um ihr mangelhaftes politisches Fundament zu verbessern. Heute verstehen sich die einen als „revolutionäre Sozialisten“ und hängen noch immer an den Wahrheiten der Handbüchlein aus den Bergen. Die anderen nennen sich „Erneuerer“ und wollen irgendwie sozialdemokratisch sein. Man erschießt sich nicht mehr, sondern man schließt sich gegenseitig aus. Letztlich aber weiß keine der beiden Seiten, wie El Salvador funktioniert. Und eben deshalb hat auch niemand eine politische Strategie.

Die FMLN hat nicht begriffen, dass El Salvador längst kein Agrarstaat mehr ist, in dem man mit einer vernünftigen Landwirtschaftspolitik soziale Gerechtigkeit schaffen könnte. Auch dass das Land kein Paradies für die Textilindustrie mehr ist, wo Investoren aus Südostasien gerne ihre Knochenmühlen aufstellen, hat die FMLN verschlafen. Dafür ist der Mindestlohn von 144 Dollar im Monat schon wieder zu hoch. San Salvador hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr zur Schlafstadt entwickelt, wo zwar noch immer die Mehrheit der Salvadorianer wohnt. Geld verdienen aber tun sie in den USA und Kanada.

Rund 30 Prozent der Bevölkerung sind in den Norden gegangen, die meisten illegal. Monat für Monat schicken sie Geld nach Hause – viel mehr, als sich mit einem Stückchen Land erwirtschaften ließe. Also wird immer weniger bewirtschaftet. Es gibt schon Dörfer, in denen kein Feld mehr bestellt wird. Die in der Regierungspartei Aena organisierten Oligarchen des Landes haben dies verstanden. Sie sind keine Landbarone mehr, sondern besitzen Banken und Einkaufszentren. Sie schöpfen das Geld ab, das aus dem Norden kommt. Je mehr Armut sie mit ihrer Politik produzieren, desto mehr Salvadorianer machen sich auf den Weg in die USA, desto mehr Geld fließt zurück und desto reicher werden die Oligarchen. Der FMLN aber kommt darüber die natürliche Basis abhanden. Wer Monat für Monat seine Überweisung empfängt, denkt nicht mehr daran, für ein Stückchen Land zu kämpfen und sich dafür zu organisieren.

El Salvador ist kein Agrarstaat mehr. Viele Bürger arbeiten im Ausland. Das hat die FMLN nicht begriffen

Natürlich werden die Armen weiterhin die FMLN wählen, schon allein wegen der emotionalen Verbundenheit zu den vier Buchstaben und dem fünfzackigen Stern. Aber sie sind nur Wähler, keine organisierte Basis. Die Partei gehört längst den Funktionären, und die nutzten sie von Anfang an zum Schachern um den eigenen Vorteil. Das begann schon 1993. Eine Kommission hatte eine Liste von über 100 Offizieren vorgelegt, die wegen Menschenrechtsverletzungen entlassen werden sollten. Einer der fünf ranghöchsten FMLN-Comandantes war bereit, ein paar dieser Schlächter im Amt zu lassen, wenn er im Gegenzug Rundfunklizenzen übertragen bekäme. Damals war das noch ein Skandal. Heute gehören solche Kuhhandel zur Routine.

Die FMLN hat damit nur nachvollzogen, was ihr die Sandinistische Befreiungsfront FSLN in Nicaragua vorgemacht hat und worin ihr nun die Nationalrevolutionäre Einheit Guatemalas URNG nacheifert. Alle drei ehemaligen Guerillabewegungen wussten nicht, wie eine militärische Avantgardeorganisation in ein neues Modell einer linken lateinamerikanischen Massenpartei weiterentwickelt werden könnte. Stattdessen orientierten sie sich am üblichen Parteimuster des Machtklüngels.

Noch ist es nicht zu spät. So lange die ehemaligen Guerillaorganisationen ihren im Befreiungskrieg erworbenen historischen Kredit noch nicht ganz verspielt haben, können sie mit dem Parteiwerdungsprozess von vorne beginnen. Doch es gibt keinerlei Anzeichen dafür. Die Kader haben sich in der Gesellschaft, die sie einst revolutionieren wollten, bequem eingerichtet. TONI KEPPELER