Zwei Mal davon gekommen

■ Die 21-jährige Melanie hat einen Autounfall und einen Flugzeug-Absturz überlebt / Heute sitzt sie im Rollstuhl – „nicht für immer“, sagt sie

Es war im Oktober vor zwei Jahren, nachts um halb zwei auf der Autobahn A 1, kurz hinter der Auffahrt Uphusen-Mahndorf: Die damals 19-jährige Melanie fährt alleine im Auto von einer Geburtstagsfeier nach Hause. „Ich habe keine Erinnerung mehr an den Abend. Meine Eltern haben mir später erzählt, dass ein Auto von hinten mit 160 bis 180 Sachen in mich reingeknallt ist. Mein Auto war total zusammengefaltet.“

Die Feuerwehr gibt zu Protokoll, dass auf der Rückbank niemand eine Überlebenschance gehabt hätte. Melanie trägt eine etwa sechs Zentimeter lange Narbe am Hinterkopf davon, kaum zu sehen unter ihrem peppigen Kurzhaarschnitt. Zwei Tage lang hat sie nach dem schrecklichen Unfall im künstlichen Koma gelegen. Als sie wieder aufgewacht ist, hat sie nach ihrer Mutter gefragt – die an ihrem Bett stand. „Ich habe sie erst nicht erkannt,“ erzählt Melanie und bedauert ganz offensichtlich den Schmerz, den sie ihrer Mutter damit zugefügt hat.

Die Unfall-Folge – ein schweres Schädel-Hirn-Trauma – zwingt die Fachabiturientin zu einem halbjährigen Aufenthalt in einer Reha-Klinik. Bei den ganzen Tests sei sie sich furchtbar blöd vorgekommen, weil sie sich sicher war, „ganz normal“ zu sein. „Die anderen haben gesehen, dass ich eben nicht alles konnte.“

Fazit: Das Fachabitur abzuschließen, ging nicht mehr. „Aber ich wollte arbeiten“, erzählt Melanie. Der Ausbildungsplatz zur Restaurant-Fachfrau schien passend. „Vorher hatte ich ja auch schon so einige Jobs, im Kellnern war ich besonders gut.“ Mitte Juli sollte es losgehen.

Nur zwei Wochen vorher kam dann alles anders: Der 2. Juli 2000 ist ein schöner Sommertag. Melanies Onkel ist Pilot. Gemeinsam mit ihm, ihrem Großvater und ihrem damaligen Freund macht sie einen Rundflug über Bremen und Bremerhaven. Beim Landeanflug bekommt die viersitzige Cessna Schwierigkeiten – die Maschine stürzt ab. Sie erlebt alles bei vollem Bewusstsein: Wie ihr damaliger Freund trotz eigener Knochenbrüche und innerer Verletzungen versucht, sie aus dem Wrack zu ziehen, wie sie im Gras liegt und ihre Beine nicht mehr spürt. Trotz eines starken Schmerz- und Beruhigungsmittels hört sie noch im Dämmerzustand wie eine Ärztin zu den Ersthelfern sagt: „Oh je, guckt euch mal den Rücken an.“ Sie meint Melanie. Großvater und Onkel können erst anderthalb Stunden später aus dem zerschmetterten Flugzeug geborgen werden. Für Melanies Opa kommt jede Hilfe zu spät, er stirbt.

Melanie erwacht im Krankenhaus in Hamburg-Boberg. Diagnose: komplette Querschnittsläh- mung. Ihre Reaktion: „Ich wollte es nicht wahrhaben, dass ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl sitzen soll.“

Im Krankenhaus habe sie alles neu lernen müssen, „wie eine Zweijährige“. Ihre Mutter hat ihr später erzählt, dass sie, Melanie, ihrer Familie und ihren FreundInnen Kraft gegeben hätte. Das klingt kaum vorstellbar. Umgekehrt gilt aber das Gleiche.

Melanies Familie gibt ihr Halt: „Ohne meine Familie hätte ich nicht die Kraft gehabt daran zu glauben, dass das Leben weitergeht. Aber das Schlimmste ist aufzugeben“, sagt sie. Mittlerweile klingt ihre Stimme zuversichtlich und stark, ihre Augen strahlen meistens. Nur manchmal bei den leiseren Tönen kann man erahnen, dass das nicht immer so war. Jeden Tag kamen ihre Eltern damals zu ihr ins Krankenhaus nach Hamburg.

Heute sagt sie, dass sie durch diesen Absturz um vier bis fünf Jahre „weiter im Kopf“ sei, als sie es sonst vielleicht wäre. Noch am Morgen vor dem Flug hätte sie sich nicht vorstellen können, auf eigenen Beinen zu stehen und Verantwortung für sich, aber auch für andere zu übernehmen. „Es war klar, dass ich nicht mehr in mein Elternhaus ziehen konnte. Es hat zu viele Treppen, da hätte man wahnsinnig viel umbauen müssen. Außerdem kann mich mein Vater ja nicht noch mit siebzig Jahren hierhin heben und dorthin setzen.“

Seit fast genau einem Jahr wohnt Melanie jetzt in ihrer eigenen Wohnung in Bremen. Mit Hilfsmitteln oder einer Begleitperson – Freunde oder Bekannte – kommt sie dort gut klar. In ihrem Leben habe sich trotzdem gar nicht so viel geändert – zumindest nicht äußerlich: Sie geht mit ihrem neuen Freund, Thomas, in die Disco und sie spielt „Sledgehockey“, Eishockey in einem schnellen wendigen Schlitten.

Nachdenklicher scheint sie geworden zu sein: „Ich nehme mir jetzt viel mehr Zeit für mich, wenn es mir nicht gut geht. Früher habe ich das mit Arbeit überdeckt. Mein Leben bestand ja aus Reiten, Arbeiten und Schule.“ Dass sie für immer im Rollstuhl sitzen soll, damit hat sie sich bis heute nicht abgefunden: „Ich habe nur dieses eine Leben. Ich werde nicht den Rest meines Lebens in diesem verdammten Rollstuhl sitzen.“ Grund zur Hoffnung hat sie: die Diagnose „komplette Querschnittslähmung“ scheint nicht zuzutreffen, manchmal kribbelt es ein wenig in ihren Beinen.

Dass es dauern kann, bis sie auch ohne Rollstuhl zurechtkommt, ist ihr bewusst: „Sieben, acht oder auch neun Jahre. Aber vielleicht bleibt es kein Traum“. Dafür tut sie eine Menge: Mehrmals in der Woche geht sie zu Krankengymnastik, Lymphdrainage, Fango und Massagen. Dazu kommt therapeutisches Reiten.

„Mein Ziel? Ich will mir eines Tages Kunststoff-Schienen an die Beine schnallen und mit Krücken wieder laufen können.“

Ulrike Bendrat