strübel & passig
: Kontakte mit Sinn für das Wesentliche

Kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag fing es an. Ich erhielt auf meinem Spam-Account, also dem Mailkonto, das ich überall dort angebe, wo Tsunamis von Werbemails zu erwarten sind, „post von www.lie.be user 2345*.“ „Hallo! Ich, 33, 1,80, kräftig und gut aussehend, habe deine Anzeige gelesen und finde Katja Riemann auch Scheiße! Gerne würde ich mich mit dir treffen und deine Brüste durchkneten, bis es dir kommt. Schreib doch mal! Dein Gerald*“.

Ich war, gelinde gesagt, irritiert. Es gibt durchaus Menschen, die mich für fortschrittlich halten. Ich meine, ich hatte schon ein Modem, da dachten die meisten noch, das Wort bezeichne einen Lymphstau im Bindegewebe. Ich lehne Dinge als „durch“ ab, die andere gerade für sich entdecken. Aber eine Kontaktanzeige? Moi? Never. Was die Balz angeht, bin ich so altmodisch und streng wie die Sütterlinhandschrift meiner Großmutter. Ich glaube an die Macht des Zufalls. Alles Geplante ist mir zuwider. Anderntags wollte ich erneut die ungeliebte Mailbox leeren. Vier Mails von www.lie.be. Zwei der Herren versicherten, ihre Frau verstehe sie nicht, „aber wegen der Kinder“. Alle vier waren der Meinung, dass nur sie meine unersättlichen Begierden befriedigen könnten, „Sauberkeit und Diskretion sind Ehrensache“. Einer hatte ein Foto seines unspektakulären, aber sicher sauberen und diskreten Genitals angehängt. Ich staunte nicht schlecht über so viel Sinn fürs Wesentliche.

Dann, an meinem dreißigsten Geburtstag, kam Licht in die Sache. Zwei Freundinnen hatten sich, so erklärten sie beim Gratulieren strahlend, „meiner angenommen“. Beide waren sie in den Jahren zuvor hauptsächlich durch andauerndes Verheiratetsein aufgefallen. Und durch liebevolle Kommentare wie: „Es kann doch nicht sein, dass eine Frau wie du ohne Mann herumläuft.“ Beziehungsweise: „Ach, du hast es gut, kannst machen, was du willst.“ Da wälzte sich also der Hase ruhelos im Pfeffer! Sie hatten eine Kontaktanzeige für mich aufgegeben. Darin stand, dass ich eine feste Beziehung suche. „Versehentlich“ hatten sie aber auch den Menüpunkt „erotisches Abenteuer“ angeklickt. Und weil beide im Internet eher hilflos sind, hatte Eva sofort das Passwort verschlampt, mit dessen Hilfe ich die Anzeige hätte löschen können. „Hallo, ich bin Michael*. Ich stehe auf harte Spiele und alles, was Spaß macht. Keine extremen Sachen! Da ich im Außendienst arbeite, bin ich total flexibel. Ruf doch mal an!“

Inzwischen ist ein Jahr verstrichen, die Website ist einem schlichten 404 gewichen, aber die weiterhin eintrudelnden Antworten auf die Anzeige sind zu einem lehrreichen Teil meines Lebens geworden. „Mein Kick ist das Unbekannte und Sex an ungewöhnlichen Orten. Da ich meinen Führerschein verloren habe, finde ich es toll, dass sich eine Frau aus dem Raum 69 bei lie.be meldet. Schreib mir doch mal! Dein Martin“.

Irgendwann habe ich angefangen, diese Mails zu sammeln, weil sie etwas Beruhigendes haben in ihrer tölpelhaften Tristesse. Auch regen sie zum Fantasieren an – nein, nicht was Sie jetzt denken. Aber ob Martin seinen Führerschein auf der Suche nach dem Kick des Unbekannten verloren hat oder doch nur mit Alkohol am Steuer erwischt wurde, das würde mich wirklich interessieren. Und überhaupt, wie flexibel muss man im Außendienst wirklich sein?

Aber vielleicht mache ich doch lieber ein Buch aus den gesammelten Werken. „Heart of Darkness“ könnte es heißen. Oder „Ficker der Finsternis“. Hauptsache was mit erotischen Abenteuern. Und innen würde in gezierten Lettern stehen: „Gewidmet den Unverstandenen. Michael, Klaus und Nr. 2345*“ (*alle Namen, Nummern und Adressen geändert). IRA STRUEBEL

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