ulrike winkelmann über Golf
: Gold verfinstert

Als meine Bonusheft-gepflegten Zähne zu Ruinen verfallen waren, begann die Zeit der Demütigungen

Wenn ich „Ramadan“ sage, sieht man sie. Oder „Alhambra“. Nicht bei „Falbala“, die Vokale sind zu kurz. Aber bei „Afghanistan“ sehe ich im Spiegel in beiden Mundwinkeln meine neuen Halbkronen blitzen. Gold. Mehr als ein taz-Nettogehalt. Und das, obwohl ich mein Bonusheftchen so lange Jahre treulich mit zum Zahnarzt getragen und abstempeln lassen habe. Aber mehr als 60 Prozent zahlt die Krankenkasse trotzdem nicht. In welchen Kassen sind eigentlich all diese Leute, die mir von „Augen zugedrückt“ und dem „Deal“ erzählen, wonach ihre freundliche Sachbearbeiterin ihnen das Gebiss auf Beitragszahlerkosten vergolden lässt?

Eigentlich ist „blitzen“ das falsche Wort, denn eher verdunkelt das Gold die Mundwinkel, also den Platz neben den Schneidezähnen. Andererseits sieht man meistens sowieso nur meine oberen Schneidezähne. 15 Jahre nach der nächtlich ausgespuckten Zahnspange endlich ein Vorteil des Überbisses.

Jetzt bin ich alt. Wer Gold im Mundwinkel hat, ist alt. Natürlich waren da vorher auch schon Plomben, aber Almagam ist die Füllung der Teenager. Frauen altern anders als Männer: Die Jungs haben sich ihre Kiefer alle als Zivis vergolden lassen, da war’s nämlich umsonst. Darum hat man gelernt, bei Männern das biologische Alter vom zahnmedizinischen Alter zu entkoppeln. Bei Frauen ist Gold ein Verfallsmerkmal.

Die Zahnärztin reichte mir den Handspiegel, als sie die alten Plomben herausgeholt hatte. Der Karies darunter musste ja auch weg, und übrig waren von vier dicken Backenzähnen nur noch Ruinen. Ähnlich wie bei verfallenen Burgen standen jeweils nur die vier Außenecken, spitz gefeilten Wachtürmchen gleich, dazwischen lugte die Zahnsubstanz kaum mehr übers Zahnfleisch hinaus.

Zwei Wochen musste ich mit Provisorien herumlaufen, die schlecht saßen und rubbelig waren. Mein größer Feind war der Backenzahn links unten vorn: Er pfiff bei jedem Atemzug und begann bei kaltem Wasser, Alkohol oder Süßem schrill zu quietschen.

Schlechte Laune bei der Arbeit, Schmerztabletten nachts und eine ganz neue Verbitterung über die objektive Diskriminierung durch Schmerzen im Alltag waren aber gar nichts im Vergleich dazu, was kam, als die maßgefertigten Halbkronen eingesetzt wurden. Die Zahnärztin verzichtete auf eine Betäubung – „geht ganz schnell“ –, und ich rutschte wimmernd unter Absauger und Besteck weg. Tränen. Als sie den Zement abschlug, biss ich ihr in den Finger. Böse waren wir beide, nur ich war das Opfer. „Stell dich nicht so an!“, stand deutlich lesbar in ihren Augen geschrieben, „mach du erst einmal eine Geburt mit.“ Warum siezte sie mich eigentlich noch nach dieser Demütigung? Sie stand und schaute herab, ich krümmte mich weit unter ihr und öffnete meinen Mund vorläufig nicht mehr.

„Ist das mein Kind, das da so schreit?“, fragte meine Mutter im Tone neugieriger Irritation eine der Zahnarzthelferinnen, die damals noch im Halbdutzend die Praxen bevölkerten. Das war vor zwanzig Jahren, als Doktor B. mir meinen letzten Milchbackenzahn – „geht ganz schnell“ – ohne Betäubung zog.

Bei Doktor B. war der Sessel noch schweinsledern und war so angenehm an die Biegung des eigenen Hohlkreuzes angepasst, dass meine Mutter seit langem überlegt, ob man nicht statt eines Sofas einen alten Behandlungsstuhl ins Wohnzimmer stellen könnte. Ihr Gebiss hat er bis heute unter Kontrolle. Sie scheint durch die Behandlung ohne Infantilisierungserfahrung hindurchgegangen zu sein.

Ich dagegen war seit zwanzig Jahren nicht mehr so klein wie auf dem Plastikbehandlungsstuhl meiner Zahnärztin. Die legte – „das wird Sie garantiert beruhigen“ – die CD mit „Best of Enya“ ein, um die Verhöhnung abzurunden.

Mir fielen berühmte Folterungsszenen ein. George Orwell schildert in „1984“, dass und warum nichts so erniedrigt wie körperlicher Schmerz. In Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ müssen die beiden Geschwister Scout und Jem zur garstigen Nachbarin, um ihr vorzulesen. Am Ende stellt sich heraus, dass die Alte klaren Verstandes sterben wollte – ohne das Morphium, das ihre Schmerzen betäubte – und die Kinder zur Ablenkung brauchte. Das Buch habe ich geliebt, aber diese protestantischen Schmerz-und-Würde-Geschichten gehören in die Winnetou-Märchenkiste. Ist die Magisterarbeit über den Zahnschmerz in der deutschen Literatur eigentlich schon geschrieben? Auch Verhaltensänderungen in Folge von Gebissvergoldungen müssten noch wissenschaftlich erörtert werden.

Mir ist mittlerweile aufgefallen, warum erwachsene Menschen irgendwann aufhören mit Kaugummikauen. Es macht mit einem Metallgebiss einfach keinen Spaß mehr. Vielleicht aber will mein Unbewusstes auch den erlittenen Würdeverlust wieder wettmachen und verbietet mir jugendliches Gehabe.

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