Ein Staat als Geisel der Peronisten

Die argentinische Gesellschaft ist gelähmt. Schuld daran ist ein tief verwurzelter Peronismus, dem eine schwächliche Opposition nicht Paroli bieten kann

aus Buenos Aires INGO MALCHER

Es ist das Drama Argentiniens, dass es auf der politischen Bühne keine Kraft gibt, die sich wirksam gegen die verkrusteten Parteistrukturen durchsetzen könnte. Sowohl die Radikale Bürgerunion (UCR) des kurz vor Weihnachten zurückgetretenen Präsidenten Fernando de la Rúa als auch die Justizialistische Partei (PJ) der Peronisten sind weitgehend diskreditiert. In Argentinien rangiert Politiker auf der Liste ehrenwerter Berufe etwa gleichauf mit Dieben und Fälschern.

Im 20. Jahrhundert gab es in Argentinien praktisch nur drei Regierungstypen: Peronisten, UCR oder Militärherrschaft. Keine politische Bewegung hat das Land so sehr geprägt wie die Peronisten. Sie betrachten den Staat als ihren Privatbesitz. Als Fernando de la Rúa kurz vor Weihnachten anbot, mit den Peronisten eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, ließen sie ihn auflaufen. Zwei Wochen und vier Regierungschefs später ist es der Peronist Eduardo Duhalde, der diesen Vorschlag wieder aufgreift. Zuvor hatten die peronistischen Gouverneure ihrem eigenen Mann im Präsidentenamt, Adolfo Rodríguez Saá, die Gefolgschaft verweigert und ihn so zum Rücktritt gezwungen.

Juan und Evita, das Politpärchen

Die Peronisten sind ein mafiöser Klüngel halbseidener Caudillos. Was sie eint, ist ihr Wille zur Macht – und die platonische Liebe zu ihrem General Juan Domingo Perón und dessen Frau Eva Duarte de Perón, genannt Evita. Beide sind für die Peronisten unsterblich. Bei jeder Versammlung der PJ und jedem noch so kleinen Gewerkschaftstreffen wird der Peronistenmarsch abgesungen. Die Konterfeis des Politpärchens sind bei jeder Gewerkschaftsdemonstration auf blauweißen Fahnen dabei, bei jedem Streik auf Flugblätter gedruckt, ihre Büsten stehen in der düsteren Eingangshalle der Zentrale des argentinischen Gewerkschaftsdachverbands CGT.

Dreimal war der Mussolini-Bewunderer Juan Domingo Perón Präsident Argentiniens. Er versuchte sich als Verteidiger der Arbeiterinteressen zu profilieren. Schon in seiner ersten Amtsperiode ab 1945 hob er die Löhne an, verbesserte den Kündigungsschutz und kümmerte sich um eine Rentenversicherung. Perón baute seine Bewegung mit der Arbeiterklasse auf und wurde deren Schutzpatron. In seiner allmorgendlichen Radiosendung hörte sich das so an: „Ich habe Vertrauen in die Menschen, die arbeiten, weil sie mich noch nie betrogen haben.“

Wenn er jedoch vor Unternehmern sprach, klang er anders. „Um zu vermeiden, dass die Massen nicht zu weit mit ihren Forderungen gehen, ist das wichtigste Hilfsmittel, sie zu organisieren.“ Sein Ziel: Unternehmer und Arbeiter kümmern sich Hand in Hand um den Aufbau des Landes. In den Worten des Politologen Carlos S. Fayat: „Der Peronismus ist die argentinische Version des italienischen Faschismus, er ist ein Produkt des argentinischen Nationalismus, der die Arbeiter zu seinem Instrument machte.“

Bis heute sind die Gewerkschaften das wichtigste Standbein der peronistischen Bewegung. So schafften sie es durch permanente Streiks, unter dem UCR-Präsidenten Raúl Alfonsín das Land lahm zu legen und ihn schließlich zur Amtsaufgabe zu zwingen. Alfonsíns Nachfolger, der Peronist Carlos Menem, betrieb in seiner Amtszeit von 1989 bis 1999 den Totalausverkauf des Landes, verdoppelte die öffentlichen Schulden und die Arbeitslosigkeit. Doch die Gewerkschaften verhielten sich still. Sie traten erst wieder auf den Plan, als der UCR-Präsident Fernando de la Rúa Menems Erbe in Höhe von 132 Milliarden Dollar Staatsschulden zu verwalten begann. In 720 Amtstagen riefen die Peronisten zu acht Generalstreiks auf, doppelt so viele, wie sie unter Menem in zehn Jahren angezettelt hatten.

Ungebrochener Machtinstinkt

Im Peronismus haben sowohl Linke wie Rechte Platz gefunden. „Peronismus ist einfach nur Perón“, schreibt der Politologe Fayat. Aber innerhalb der peronistischen Bewegung werden darunter oft verschiedene Dinge verstanden. Als Perón nach Jahren im Madrider Exil am 20. Juni 1973 nach Argentinien zurückkehrte, erlebte die peronistische Bewegung ihr schlimmstes Trauma. Tausende waren zum internationalen Flughafen von Buenos Aires geeilt, um dem General die Ehre zu erweisen. Doch plötzlich kam es zu einer wilden Schießerei zwischen rechten Peronisten und den linksperonistischen Guerilleros der „Montoneros.“ Beide Seiten zogen die Waffen zur Verteidigung Peróns. Das Blutbad unter den Peronisten forderte über hundert Tote. Trotz solcher Tragödien hat sich die peronistische Bewegung immer wieder aufgerappelt.

Selbst nach Peróns Tod am 29. Juni 1974 verschwand der Peronismus nicht aus der argentinischen Politik. Und das, obwohl die Montoneros und die rechtsextreme AAA, immerhin kommandiert von Peróns ehemaligem Sekretär, das Land ins Chaos trieben, bis die Militärs putschten und eine blutige Diktatur errichteten. Die Peronisten haben sich als extrem anpassungsfähig erwiesen. Ihr politisches Ziel ist heute so verschwommen wie damals und ihr Wille zur Macht ungebrochen. Notfalls nehmen sie dafür den Staat als Geisel.