Neue Waffen gegen den Krebs

Der große Durchbruch im Kampf gegen Krebs ist bisher ausgeblieben. Doch konnten die Krebsforscher in den letzten Jahren zahlreiche Teilerfolge erzielen. Neue Medikamente, Impfstoffe und Operationstechniken sind in der Erprobungsphase

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

„Leben wäre eine prima Alternative“, schrieb Maxie Wander, als sie von ihrer Krebserkrankung erfuhr. Doch sie starb im November 1977. Heute – 24 Jahre später – sind die Zeiten offenbar überwunden, in denen die Diagnose „Krebs“ unweigerlich das Todesurteil, verbunden mit vielen Schmerzen, bedeutete. Denn das in den vergangenen Jahren stark gestiegene Wissen von Molekularbiologen und Genforschern führte zu ersten Erfolgen in der Praxis.

Hermann Müller* war 45, als die Ärzte bei ihm eine bösartige Störung des Blutbildes feststellten: chronische myeloische Leukämie, kurz CML genannt. Trotz Chemotherapie und Knochenmarktransplantation kam es bei dem Patienten immer wieder zu neuen Krankheitsschüben. Im November 1999 brach die Erkrankung in einer besonders schweren Weise aus, die auf eine Chemotherapie nicht ansprach. Eine Behandlung mit einem neuen, viel versprechenden Medikament wurde im Rahmen einer internationalen Studie gestartet. Die Krankheit konnte zum Stillstand gebracht werden – bis zum heutigen Tag.

Nach zwei Jahren scheint die Angst vor dem Krebs fast überwunden zu sein. „Ich will mir keine falschen Hoffnungen machen“, erklärt Müller, „aber zur Zeit führe ich ein ganz normales Leben.“ Er schraubt eine weiße Plastikdose auf, deren Inhalt ihm dieses Leben ermöglicht: gelbe Kapseln, genannt Gleevec. Sie enthalten den Wirkstoff STI 571. Dieser wirkt gezielt: Er blockiert das Enzym, das die unkontrollierte Vermehrung der weißen Blutkörperchen bei Leukämie verursacht. Bei CML landet ein Gen am falschen Ort und heftet sich an ein anderes Stück Erbinformation. So entsteht der Bauplan für eine abgewandelte Form des Enzyms BCR-ABL-Tyrosinkinase, das anders als das Original keiner Kontrolle mehr unterliegt. Durch seine rastlose Aktivität bringt das Enzym die Blutzellen dazu, sich wie wild zu teilen. STI 571 blockiert gezielt das irregeleitete Enzym und verhindert so die Vermehrung der Krebszellen.

Vor kurzem wurde entdeckt, dass STI 571 offenbar auch bei einer anderen Krebsart wirkt: Es hilft Patienten mit einem seltenen Magentumor. Ein Team um Charles Blanke von der Oregon Health Sciences University hatte das Medikament an 86 Patienten mit einem so genannten gastrointestinalen Stromatumor getestet. In 59 Prozent der Fälle führte Gleevec zu einer deutlichen Verbesserung des Zustands, berichtete der Arzt.

Doch eine absolute Gewissheit, dass STI-571-Kapseln immer wirksam sind, gibt es offenbar nicht. Eine Forschergruppe um Charles Sawyers von der Universität in Kalifornien in Los Angeles stellte bei behandelten Leukämiepatienten Resistenzen fest: Die Tyrosinkinase hatte sich aufgrund einer genetischen Mutation so verändert, dass sie für das Medikament nicht mehr zu blockieren war. Sawyers betonte jedoch, dass die Resistenz bisher nur ganz selten vorkäme.

In einem Zustand der Ungewissheit befindet sich auch die Brustkrebspatientin Anna Nadler. Zwar weiß die 42-Jährige, dass es für sie keine Heilung mehr geben kann, doch hofft sie, noch viele Monate leben zu können. Dafür spricht ihr positiver Hormonrezeptor-Status. Er bedeutet, dass bei der Patientin eine Hormontherapie wirkt, die weitaus weniger Nebenwirkungen als eine Chemotherapie hat.

Spricht eine Patientin jedoch nicht auf eine Hormontherapie an oder verläuft ihre Erkrankung sehr aggressiv, können neu entwickelte Chemotherapeutika eingesetzt werden, die die Tumorzellen sofort abtöten. Mittlerweile gelang es, Substanzen herzustellen, die weitaus wirksamer als die herkömmlichen sind und weniger Nebenwirkungen zeigen. Während sich einige dieser Substanzen noch in der Testphase befinden, steht Docetaxel – auch Taxotere genannt – bereits für die Behandlung der späteren Brustkrebsstadien, in denen sich Tochtergeschwülste im Körper gebildet haben, zur Verfügung.

Im September vergangenen Jahres ließ die europäische Zulassungsbehörde Taxotere als Medikament zu, das bei fortgeschrittenem Brustkrebs als Erstes gegeben werden kann. Die Zulassung stützte sich auf die Ergebnisse einer Studie, an der 429 Patientinnen mit Brustkrebsmetastasen teilnahmen. Von zehn Patientinnen sprachen neun auf die Therapie an: Bei sechs bildete sich der Tumor zurück, bei dreien kam es zumindest zu einem Wachstumsstillstand.

In einigen Fällen kann der Therapieerfolg noch höher liegen. So ist es für manche Patientinnen ausgesprochen günstig, Taxotere mit einem gezielt wirksamen Antikörperpräparat, dem Brustkrebsmedikament Herceptin, zu kombinieren. Herceptin blockiert ein Eiweiß, das bei 20 bis 25 Prozent der Brustkrebspatientinnen vermehrt auf der Oberfläche der Krebszellen vorhanden ist und den Krebszellen signalisiert, sich zu teilen. Indem Herceptin dieses Signal abfängt, bremst es das Tumorwachstum.

Aber nicht nur neue Medikamente bereichern das Arsenal der Onkologen; auch Operations- und Bestrahlungstechniken haben Fortschritte gemacht: Mit komplizierten Computerprogrammen planen Chirurgen die millimetergenaue Entfernung von Lebertumoren. Radiologen gelingt eine zielgenaue dreidimensionale Tumorbestrahlung, die lebenswichtige Organe verschont. Eine Chance auf echte Heilung hat beispielsweise Martin Both, 64 Jahre alt, der an einem Chordom erkrankte. Dieser Hirntumor an der Schädelbasis ist nur schwer zu entfernen, und die übliche Strahlentherapie kann nichts gegen ihn ausrichten. Doch inzwischen wurde eine neue Technik entwickelt – die Schwerionen-Strahlentherapie, und Martin Both gehört zu einer Gruppe von Patienten, die im Rahmen eines fünfjährigen Pilotprojektes behandelt werden. Leiter des Projektes sind Gerhard Kraft von der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt und Michael Wannenmacher von der Radiologischen Universitätsklinik in Heidelberg.

Ziel ist eine Krebstherapie ohne die Nachteile der in der bisherigen Behandlung eingesetzten harten Röntgenstrahlen. Denn diese lassen sich nicht ausschließlich auf den Tumor konzentrieren, vielmehr durchschießen und beschädigen sie auch gesundes Gewebe in der Umgebung des Krebses. Und die biologische Wirksamkeit, die Zerstörungskraft der Röntgenstrahlen, ist begrenzt.

Schwerionen-Strahlen jedoch, in schnellen Flug gebracht von dem Beschleuniger der GSI, entwickeln zunächst kaum Wechselwirkung mit der Zellmaterie. Dies passiert erst dann, wenn die Ionen am geplanten Ziel – dem Krebsgewebe – abgebremst werden. Auf diese Weise ist es möglich, das Maximum der Energieübertragung auf wenige Millimeter zu begrenzen. Das bedeutet, dass der Strahl erst im Tumorgewebe umschaltet auf „besonders zerstörerisch“. „Mit diesem Rasterscan-Verfahren kann jedes Tumorvolumen präzise bestrahlt werden, ohne das gesunde Gewebe vor, hinter und seitlich der Geschwulst zu belasten“, erklärt Kraft.

Tumorzellen können auch durch eine andere Methode vernichtet werden – indem man ihnen die Blutzufuhr abschneidet. Denn davon brauchen bösartige Zellen besonders viel: Sie benötigen für ihr ungehemmtes Wachstum sogar eine eigene Gefäßversorgung, da das alte Blutgefäßsystem ab einer bestimmten Geschwulstgröße nicht mehr ausreicht. Zurzeit werden Medikamente gegen die Neubildung von Gefäßen entwickelt. Auf der Konferenz der American Society of Clinical Oncology berichtete der US-Wissenschaftler Judah Folkman beispielsweise, dass die auch normalerweise im Körper vorkommende Substanz Endostatin sicher und nebenwirkungsfrei ist. Ob es für eine Heilung ausreicht, den Krebszellen die Blutzufuhr abzuschneiden, bleibt aber noch abzuwarten.

Tag für Tag entarten Zellen unseres Körpers. Oft schafft es das Abwehrsystem jedoch, diese Zellen zu zerstören. Aber Krebszellen kennen viele Tricks, um die Abwehr auszuschalten, die zudem im Alter immer mehr an Schlagkraft verliert. Diesen Tricks kommen Molekularbiologen jetzt zunehmend auf die Spur. Sie wollen ihr Wissen in der Impftherapie einsetzen, deren Ziel es ist, die Krebszellen für das Abwehrsystem erkennbar zu machen. Zu diesem Zweck werden unter anderem so genannte Hybridzellen eingesetzt, mit Tumorzellen verbundene Zellen des Immunsystems. Für die Verschmelzung werden bestimmte Abwehrzellen, die „antigenpräsentierenden Zellen“, verwendet. Diese kommen entartetem Gewebe auf die Spur und alarmieren dann andere Abwehrzellen, zum Beispiel die zytotoxischen T-Lymphozyten, die die Krebszellen dann endgültig vernichten. Die leistungsfähigsten antigenpräsentierenden Zellen sind die so genannten dendritischen Zellen. Zahlreiche Forscher, die eine Abwehrtherapie gegen Krebs entwickeln, setzen daher diese Zellen ein.

Doch was auf den ersten Blick aussieht wie ein Durchbruch in der Krebstherapie, ist eine Methode, die noch am Anfang steht. Die Impftherapie wurde bisher nur an wenigen Krebsarten erprobt, und die Zahl der erfolgreich therapierten Patienten ist noch nicht allzu hoch: Wissenschaftler der John-Hopkins-Universität entwickelten beispielsweise einen Impfstoff gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bei drei von 14 Patienten sprach das Immunsystem an. Mediziner der Berliner Charité hatten bei einem von 16 Hautkrebspatienten die Rückbildung aller nachweisbaren Metastasen bewirkt. Gegenwärtig laufen Studien zur Behandlung von Nieren-, Haut-, Dickdarm- und Prostatakrebs. In einer großen Untersuchung an 240 schwer kranken Patienten wird die Krebsimpfung jetzt mit der sonst üblichen Chemotherapie verglichen.

Im Kampf gegen den Krebs gibt es offenbar eine Fülle von kleinen Fortschritten und Teilerfolgen – auch wenn der große Durchbruch wohl Wunschtraum bleiben wird. Zu vielgestaltig ist die Krankheit: Es sind mindestens 100 Krebsformen bekannt, wahrscheinlich gibt es weitaus mehr. Und die bösartigen Zellveränderungen fallen derart unterschiedlich aus, dass eine einzige Wunderwaffe gegen Tumoren aller Art nicht denkbar ist.

Aber dennoch ist ein Erfolg im Laufe jahrelanger Forschungsarbeit offensichtlich: Starben vor 30 Jahren zwei Drittel aller Krebskranken, so überlebt heute jede zweite Patientin die Fünfjahresfrist und gilt damit als geheilt. Bei Männern liegt die Rate etwas niedriger, da sie mehr rauchen und daher häufiger an Lungenkrebs erkranken als Frauen.

* Die Namen aller Patienten und Patientinnen wurden verändert