Kältetod unter freiem Himmel

Der derzeitige Winter hat bislang in Osteuropa so viele Opfer gefordert wie nie zuvor. Allein in Russland sind in den vergangenen Wochen bereits 281 Menschen erfroren

BERLIN taz ■ Jeden Winter erfrieren in Ostmitteleuropa hunderte Obdachlose. Doch noch nie gab es so viele Frostopfer wie in diesem Dezember. In Polen starben in den vergangenen Wochen 178 Menschen an Unterkühlung, 60 Prozent mehr als im gesamten vorigen Jahr. In Moskau erfroren allein in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag bei minus 26 Grad zehn Menschen. Seit dem Beginn des Winters sind damit in Russland bereits 281 Personen an Unterkühlung gestorben.

In Ungarn sind 31 Erfrorene zu beklagen, in den kleinen Balten-Republiken Litauen und Lettland jeweils um 20 Tote. Aus Rumänien und Bulgarien liegen keine verlässlichen Angaben vor, die ungewöhnlich tiefen Temperaturen und meterhohen Schneeverwehungen forderten allerdings auch hier dutzende Opfer.

Vom Baltikum bis zum Balkan, überall das gleiche Drama: Die Zahl der Gestrauchelten und gescheiterten Existenzen nimmt rapide zu, Sozialfürsorge und staatliche Einrichtungen versagen. Beim Endspurt in die EU verordnen die Politiker der heimischen Bevölkerung einen radikalen Sparkurs, Wohlfahrtsverbände sind der Aufgabe nicht mehr gewachsen, allen Schutzbedürftigen zu helfen. Oft letzter Zufluchtsort: In den Bahnhöfen treffen sich die aus der Bahn gefallenen, die Clochards und Gamins.

Wieviele es von ihnen gibt, weiss niemand, seriöse Untersuchungen fehlen. Für Polen schwanken die Zahlen zwischen 50.000 und 450.000 Obdachlose, in Tschechien leben an die 60.000 Menschen auf der Strasse oder in „unmenschlichen Umständen“, in Rumänien und Bulgarien werden statistische Angaben zu diesem für Osteuropa neuen Phänomen schlicht verheimlicht.

Bis zum Fall des Kommunismus gab es keine Obdachlosigkeit und daraus erklärt sich auch das fehlende Mitleid der Bevölkerung für schnorrende Bettler und Kostgänger in den Suppenküchen und Bahnhofsmissionen. Die wenigen Hilfsorganisationen können nur auf kleine Spendengelder bauen, finanzielle Hilfe vom Staat bekommen sie noch seltener.

Selbst die Kirchen tun sich schwer im Umgang mit den neuen Obdachlosen. Polens Seelsorger geben ganz offen zu, willkommen seien im Nachtasyl der Kirchen nur diejenigen, „die sich gepflegt kleiden, christlichen Regeln achten und sich an das Alkoholverbot halten.“ ROLAND HOFWILER