Der Orter aus Leipzig

Mit rätselhaften Bildaussagen in appelativem Malgestus, der Eindeutigkeit nur suggeriert, bleiben Neo Rauchs Bilder für unterschiedliche Lesarten offen. Damit hat er wie kaum ein anderer deutscher Maler in den vergangenen Jahren das Publikum polarisiert. Ein Gespräch inmitten fast fertiger Werke, bestimmt für das Museum of Modern Art, New York

INTERVIEW von NIKE BREYER

Neo Rauchs Atelier befindet sich in Leipzig-Plagwitz in einer stillgelegten alten Baumwollspinnerei, in der sich ein Kollektiv von acht Künstlern mit ihren Ateliers angesiedelt hat: Vorderhaus G, fünfter Stock, next to heaven. Der Raum ist hoch und hell. Ein Geruch von Terpentin und Farbe liegt in der Luft. Neo Rauch trägt ein schwarzes Hemd und eine dunkle Hose, das Haar sehr kurz. Seine wie von einem Steinmetzen behauenen Gesichtszüge zeigen einen konzentrierten Ausdruck. Frohsinn ist dort nicht zu Hause. Hin und wieder nimmt temperierte Heiterkeit darin Platz wie ein unerwarteter Gast. Am Fenster steht ein langer Holztisch, der mit Äpfeln, Trauben und zwei brennenden Kerzen gedeckt ist.

taz: Herr Rauch, Ihr Vorname Neo ist tatsächlich Ihr richtiger Name?

Das wollte ich Sie über Ihren auch fragen, weil mir natürlich klar war, dass Sie das wissen wollen. Ja, Neo ist mein richtiger Namen. Und mir ist daran gelegen, dass damit die Vermutung aus dem Weg geräumt wird, es könnte sich um ein Pseudonym handeln. Das wär mir nämlich extrem peinlich: Neo – das ist neu, das hat die Welt noch nicht gesehen.

Sie haben in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Zuwachs an Popularität erfahren. Das bringt auch Anforderungen mit sich. Für die Biennale haben Sie gleich mehrere neue Arbeiten geliefert.

Da kommt es mitunter schon zu einer gespannten Situation. Denn ich versuche, dem Werk gegenüber aussondernd und beschränkend vorzugehen, was Beteiligung an diversen Ausstellungsprojekten anbelangt. Ich will kein Fließbandlieferant werden. Zumal ja meine Angelegenheiten, die ich hier verhandele, das schnelle Produzieren kaum noch zulassen. So kommt es dazu, dass ganz bestimmte Ausstellungsprojekte mit kritisch abwägender Betrachtung des Kalenders beliefert werden können oder eben nicht. Was ich nicht mache, das sind Nachtschichten und Kampagnen, um mich irgendwo noch auf Teufel komm raus hineinquetschen zu können. Durchgearbeitete Wochenenden finden nicht statt.

Das Museum of Modern Art in New York hat bei Ihnen angefragt, es zeigt im Herbst Arbeiten von Ihnen.

Ja, man bereitet eine Ausstellung vor, die sich im weitesten Sinne mit Zeichnung befasst. Da will man verschiedene Positionen vorstellen, so eben auch meine, die ja etwas changiert zwischen Zeichnung und Malerei. Ich bin hier (deutet auf großformatige Bilder an den Wänden) dabei, eine Folge von Arbeiten entstehen zu lassen, die sich zu denen gesellen sollen, die sie schon ausgewählt haben.

Sie haben drei Bilder gleichzeitig aufgezogen.

Ja, die richten sich ja auch aneinander aus. Die müssen sich aneinander bewähren. Ich kann nicht immer nur an einem Bild arbeiten, in einem schneeweißen Kubus.

Scheeweißer Kubus?

Jetzt ist es aufgeräumt. Aber wenn ich hier durch den Müll wate, wenn es hier beinahe aussieht wie bei Francis Bacon, wünsche ich mich in einen schneeweißen Kubus mit einer Staffelei, wo dann über Monate hinweg alles Anstehende nur auf dieser einen Leinwand verhandelt wird. Dann wird sie hinausgetragen, man sieht sie nie wieder. Und dann kommt die nächste. In schwachen Momenten wünsche ich mir eine solche Situation. Das hier ist dann aber doch die effektivere Methode, Dinge nicht in familiärer Harmonie, aber doch auseinander hervorgehen zu lassen.

Mononchrome oder, wie hier, bichrome Farbigkeit taucht bei Ihnen häufiger auf. Eine Verzichtsentscheidung?

Das hat auch etwas mit dem Mut zur Unverschämtheit den eigenen Verkrustungen gegenüber zu tun. Ich muss mich mitunter zu kleinen Husarenstreichen innerhalb meines Systems zwingen, von Bild zu Bild, alle paar Monate wenigstens einmal, um nicht wegzudämmern im eingefahrenen Trott. Das sind Operationen, die mich revitalisieren. Also hier auf dieser Fläche wird jetzt eine Konfrontation zwischen Pariserblau und Zinkgrün ausgetragen, und da kommt gefälligst nichts anderes hinzu. Das sind die Spielregeln. Sieh zu, wie du damit fertig wirst! Wenn ich jetzt anfange, da moderat wieder irgendetwas hineinzufingern, dann wird das diffus und büßt von seine Knackigkeit ein, die mir in diesem Fall sehr wichtig ist.

Sich selbst Regeln auferlegen.

Sich selbst Gewalt antun, regelmäßig.

Dabei merkt man nicht, dass Sie in Gefahr sind, in eine Spur zu kommen.

Na ja. Sagen Sie vielleicht so. Es gibt nicht wenige, die meinen, der macht ja immer nur dasselbe – seit zehn Jahren.

Dieser Bruch um 1994, als sich zunehmend Gegenständliches in greifbaren Räumen formulierte und sich damit eine Erzählstruktur über die Bilder legte, war doch ganz deutlich.

Aber das hat sich so hereingeschlichen. Das war kein Bruch. Ich lehne das ab, das so zu sehen.

Okay. Das war unsensibel formuliert. Also ein . . . wie nenn ich das jetzt, ein . . .

(lächelnd) Umschwung . . .

Zu unspezifisch.

Entpuppung . . .

Sehr final interpretiert. Man muss ja doch denken, dass Sie sich wiederum weiterentwickeln.

Das wollen wir aber stark hoffen. Na ja, die Routine schleicht sich schnell ein. Ich fühle mich unter sportlichen Gesichtspunkten selbst unterfordert, wenn ich merke, diese Art, einen Kragen zu formulieren, habe ich aber jetzt verflixt noch mal schon mindestens fünfzigmal praktiziert. Das sind Situationen, wo ich mir selbst suspekt werde.

Wie kam es zu dieser Entpuppung, wie Sie sagen, von 1994, 1995?

Im Grunde ist das auch nur die Summe vieler kleiner Momente von der Art, wie ich eben einen geschildert habe.

(Der Katalog der Berliner Guggenheim-Ausstellung wird herbeigeholt) Diese ersten drei Bilder hier, das ist doch etwas ganz anderes.

Ja, natürlich. Wobei die leider in diesem Katalog noch aufscheinen. Ich hätte das gerne etwas geschlossener gehabt. Ich möchte endlich mal einen, in dem ausschließlich die aktuelle Produktion präsentiert wird.

Sind Ihnen Ihre alten Bilder unangenehm?

Nein, aber mit mir will man eben immer ein Exempel statuieren: Schauen Sie mal her, so hat sich der Kollege Rauch entwickelt. Ich meine, das kann man doch machen (lacht auf), wenn ich fünfzig bin, oder?

Der Wandel ist aber sehr spannend.

Bei anderen lassen sich noch ganz andere Bocksprünge nachweisen, noch viel rabiatere Zickzackkurse. Das ist eigentlich ganz normal. Dabei ist das – Ironie des Schicksals – nun schon der, ich glaube, dritte Katalog, der auf diese Weise zustande kommt.

Sie wollen endlich eine Ausstellung, die ganz gegenwärtig ist.

Ja.

Einen Katalog, der Sie nur horizontal zeigt.

Ja!

Sie fühlen sich stark im Moment. Möchten das zeigen.

Na ja, hm, ich weiß nicht, ob das damit zu tun hat. Aber ich möchte nicht immer diesen kunsthistorischen Aspekt. Das ist vielleicht auch dieser Andere in mir, der ein bisschen gegenläufig angelegt ist, der mich nicht maßgeblich prägt, aber immer mal wieder durchschaut und der mir sagen will, versuch doch auch einmal, so ein bisschen frisch und heutig zu sein . . . hm . . . Tagesproduktion. Aktuell. Cool. Warum gelingt dir das nicht? Stattdessen muss man immer diesen ganzen Ratsch hinterherziehen.

Können wir auf die Bilder schauen? Warum haben fast alle Schuhe auf Ihren Bildern diese dicken Sohlen?

Das isoliert. Unter Umständen. Man steht satt da. Dabei ist das auch immer von formalen Erwägungen geprägt. Ich habe meinetwegen oben angefangen. Das tue ich meistens, und dann geht das eben abwärts. Dann muss die Figur natürlich aufhören und möglichst stabil dastehen. Und wie löse ich das? Das ist dann auch über die Schuhe hinaus zu entscheiden, wie ich überhaupt die Garderobe einsetze. Wie viel darf sie sagen? Wie viel Ausdrucksmacht innerhalb des Vortrags darf ihr zukommen?

Es kommt ihr einige zu.

Ja, wobei . . . Ich will’s mal anders sagen. Ich glaube eigentlich nicht, ich hoffe wenigstens, dass es nicht so erscheint, als ob es eine Bedeutungshierarchie gibt in den Bildern im Hinblick auf die formale, rein malerische Durchdringung. Dieser Stempel hier, auf dem diese Schaukel steht, ist tatsächlich mit der gleichen Inbrunst formuliert worden wie dieser speckige Kragen, der sich um dessen Hals legt.

Im Malerischen wirkt das vollkommen gleichberechtigt. Für den Betrachter ergeben sich gleichwohl Hierarchien. Indem das, was mir näher ist, mich direkter angeht. Kleidung gehört sicher dazu.

Sicher.

Das ist auch Teil des erwähnten Entwicklungssprungs um 1994. Dass sich das Gegenständliche stärker herausarbeitet aus dem Malerischen. Sie haben gesagt, Comic und kommerzielle Grafik beeinflussen Sie.

(zustimmend): Hmm.

Ich finde die Kleidung auch sehr sportlich. Mich erinnert sie teilweise an alte Trikots, auch die Farben . . .

Sportlich? Der Arbeitswelt entliehen, dem militärischen Bereich. Eben Kleidung, mit der man einigermaßen gut durchkommt, die einen schützt und stabilisiert.

Sie bekleiden die Figuren also mit einer Haltung. Oder funktioniert das malerisch?

Das kann man nicht isoliert voneinander betrachten. Dieser Stiefelträger hier vor uns ist der grüne Kerl, der von draußen kommt aus dem Walde, mit diesem pelzigen Gesicht, dem schweren Mantel. Als übers Land Ziehender ist der in Stiefeln gut aufgehoben. Dann spielen sie natürlich malerisch wie auch zeichnerisch an dieser Stelle des Bildes eine wichtige Rolle. Diese klare Schaftbildung im Kontrast zu diesen Wulstbildungen des Hosenbeins.

Die auch oft auftauchen.

Man kommt auch schwer daran vorbei. Es ist nun mal vorhanden. Da unten spielt sich einiges an Faltenwurf ab. Mir ist das nicht immer sympathisch. Aber wie soll ich’s anders machen?

Die Männer haben auch immer wieder diese Boxershorts an.

Na, so oft nun auch wieder nicht.

Sie sehen auch aus wie Boxer, tragen Boxerstiefel. Ich hab schon das Gefühl, Sie drängen die Hosen auch zu diesem Faltenwurf.

Vielleicht verbeißt sich mein Pinsel einfach in diese Faltenlandschaft.

Das gefällt Ihnen.

Das kann schon sein. Aber ich mag’s eben nicht immer, und wenn alle Figuren auf dem Bild mit diesen Faltenturbulenzen ausgestattet sind, dann schaut man sich nach anderen Möglichkeiten um. Könnte nicht auch mal ein unbekleidetes Bein zur Abwechslung eine Rolle spielen? Oder eines, das in Stiefeln steckt? Und Sie merken, das sind dann plötzlich Erwägungen, die sind scheinbar rein formaler Natur.

Der Kerl aus dem Wald trägt einen Tannenzweig. Ist das eine Kreuzform?

Ja, die ergibt sich aus dem Zweig ganz automatisch.

Erzählen Sie über den wilden Kerl.

Ja, wenn ich das könnte, würde ich das gerne tun. Aber der war vor mir da. Der schlich sich in meine Nacht, in meine Augen. Das war eine dieser Zusendungen, mit denen ich etwas unternehmen sollte.

Sie haben ihm diese drei Figuren zugesellt, die mit ihm Kontakt aufnehmen.

(konzentriert): Ja, so ist es richtig: zugesellt.

Er ist die dominante Figur. Hat sich aus ihm das monochrome Grün ergeben?

Ja. Das war die Ausgangssituation, weil der Kerl im Traum eben durchgängig grün war.

Das hat auch was Giftiges. Auch im Traum?

Das war sehr ambivalent.

Das andere Kraftfeld im Bild ist die verschränkte Dreiergruppe.

Man könnte glauben, dass hier eine Familie beim Sonntagsspaziergang . . .

(lachend): Nein, das glaubt man nicht.

(überrascht): Nein?

Nein.

Vielleicht doch. Also mir scheint das doch sehr nahe liegend zu sein, dass die drei Personen in diesem Teil des Bildes eine Familie abgeben könnten.

Aber Sonntagsspaziergang ist zu harmlos für diese magische Situation.

. . . dass sie vielleicht auf einer Lichtung diese Szenerie vorfinden, diesen grünen Kerl, ein Haus vielleicht (lacht leicht), das mit dieser Leuchtreklame ausgestattet ist.

Orter ??

(bekräftigend): Hmm.

Also das kommt schon von „orten“, hab ich das richtig verstanden?

Jaja. Man kann es natürlich auch rückwärts lesen.

R e t r o . . . Nein! Da muss man erst mal drauf kommen.

Ich werde ja immer mit diesem Retro-Vorwurf konfrontiert.

Von Westkollegen oder von Ostkollegen?

Sowohl als auch. Aber Sie haben sofort richtig getippt, dass es sich nur um Kollegen handeln kann. Und ich denke: Warum wehrst du dich eigentlich nicht dagegen? Gefällt dir das etwa? Was heißt das eigentlich: „retro“? Ich meine, was ist das überhaupt für ein beschissenes Deutsch. Was heißt denn das wohl, wenn man das rückwärts liest.

So kam das?

Ja, und das steht dann auch da. Aha. Da ist also jemand retro . . . na gut, retrospektiv . . . Man befasst sich mit den Dingen, die hinter einem liegen. Mit welchen auch sonst? Ich bin ja kein Zukunftsforscher. Und dann ist man imstande, etwas beziehungsweise sich selbst auch zu orten.

Wunderbar.

Wunderbar, so eine einwandfreie Zuweisung. Ja, ich bin retro und was eigentlich sonst? Andererseits . . . diese Vaterfigur rechts im Bild mit Brillenähnlichem vor den Augen. Vielleicht ist es ein Blinder. Möglich, es so zu lesen.

Er guckt auch so. Man weiß nicht, ob er etwas sieht oder nicht.

Man weiß es nicht, ob er (lacht auf) durchblickt. Der Kleine weiß wahrscheinlich schon eher, worum es geht. Instinktiv versucht er jedenfalls nicht etwa, mit dem Vater zu fechten, wie der erste Blick nahe legen könnte, sondern versucht, diesen seltsamen Grünling zu attackieren.

Die Frau im Hintergrund stützt sich auf einen Sockel?

Man kann hoffentlich erkennen, dass es sich um aufgestapelte Töpfe handelt, in denen dieser Harz aufgefangen wird.

Harz?

Das Harz . . . verflixt noch mal, wie heißt das Blut der Bäume?

Ja, klar, das Harz. Woraus man Kolophonium bereitet.

Und Dammar . . .

Dammar?

Unsere Malmittel. So werden die Bäume angeritzt. Haben Sie das nie gesehen im Wald?

Nein.

Dann läuft das in diese Töpfe.

Macht man das heute noch?

Ja, das weiß ich eben nicht. Ich hab das als Kind oft in den Wäldern gesehen.

Da drüben dieses Tier ist neu.

Der Zentaur. Ja, den hatte ich noch nicht.

Während der menschengesichtige Bär ja wiederholt ein Gastspiel gibt.

Der Hirt, ja. Aber das hat sich auch erledigt. Der könnte mich vielleicht noch einmal aus einer großen Verlegenheit befreien, wenn ein Bild partout nicht auf den Punkt gebracht werden will. Aber ich glaube das eigentlich nicht.

Auch eine traumhafte Begegnung?

Nein, nein. Das passiert übrigens nur sehr selten, dass ich den Versuch unternehme, eine solche Begegnung auf der Leinwand nachvollziehen zu wollen. Meistens sind es kurze Wacheingebungen.

Zur Ökonomisierung des Denkens wechsle ich zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen. Angefangen von maximaler Präsenz bis hin zu einem sehr reduzierten Zustand, einer Art Wachschlaf. Handhaben Sie das ähnlich?

Ja. Es ist ganz entschieden so, dass ich Ökologie und Ökonomie der Zeit betreibe oder wenigstens zu betreiben versuche, so weit es eben geht. Der Geist weht nicht immer und überall. Es gibt vollständig uninspirierte Passagen. Da durchweht mich nichts. Da regt mich nichts an und regt mich nichts auf. Da geh ich durch die Tage wie ein Pfahl. Und dann gibt es diese durchlässigen Zustände, in denen auch schon leiseste Schwingungen innere Bilder oder auch Assoziationsketten wachrufen können, die dann malerische Umsetzung nach sich ziehen.

Wechsel der Lokation. Im Auto geht es aus Leipzig-Plagwitz hinaus. Vorbei an einem See. Eigentümliches Licht. Das war einmal ein Tagebau, vor zwei Jahren wurde er geflutet. Weiter durch zunehmend ländlich geprägtes Siedlungsgebiet, bis wir auf ein hinter Bäumen verstecktes spitzgiebeliges Haus zufahren, auf dessen First ein kleiner Schornstein in den Himmel ragt. Über dem Grundstück liegt ein herbstlicher Blätterteppich in Ocker-Gelb-Orange. Ein Apfelbaum mit gelben Früchten steht vor der Haustür, zu der ein Paar Stufen hinaufführen. Durch den Eingangsbereich geht es in einen größeren, gefällig geschnittenen Raum, der um einen offenen Kamin herum zentriert erscheint. Ein Tisch, Sessel, Schreibtisch, Bücher, Bilder. Auf dem Kaminsims dämmert ein ausgestopftes Gürteltier.

Für mich als Kind war das Malen immer gleichbedeutend mit Spielen. Und das ist es in einem gewissen Sinn heute immer noch.

Ja, ja. Das sagen alle.

Sagen das wirklich alle, ja? Liebermann hat das auch gesagt, die Malerei ist ein nobles Spiel und, meine ich, dem Schach vergleichbar.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass jeder, der professionell mit seinem Beruf identisch ist, Ähnliches sagt.

Verschiedentlich stöhnen die Schriftsteller aber auch, dass es eine unglaubliche Schinderei sei, diese granitenen Worte zu wuchten.

Für Sie ist es doch auch Schinderei.

Ach ja, manchmal vielleicht. Aber davon macht man nicht viel Aufhebens. Das soll ja auch bitte nicht so aussehen. Man darf davon nicht so herumtönen.

Hans Werner Henze sagte einmal, dass er vor dem Komponieren Alpträume hat. Er hat nach dem Komponieren Alpträume, und er hat Depressionen während des Komponierens. Ich denke, das erlebt in unterschiedlichem Ausmaß jeder Perfektionist. Entscheidend erscheint doch aber, ob man diese Plackerei hinnimmt, vielleicht auch herunterspielt, weil man die Tätigkeit als solche als das Eigentliche, als das Richtige erlebt. Das erscheint mir als Zeichen von Professionalität.

Das könnte Professionalität bedeuten, ja, dass ich auch, ähnlich wie Henze, von Träumen heimgesucht werde, die unmittelbar oder mittelbar mit meinem beruflichen Tun zusammenhängen oder sich daraus herleiten, Versagensängste, das Umstelltsein von Verfolgungssituationen. Das Gefühl, sich verhoben zu haben. All das. Und eine beschienene Lichtung in diesem Alptraumdickicht ist dann der Moment der kindlichen Spielfreude, wenn ich das Atelier betrete, das weiße Viereck vor mir steht . . .

Am Anfang?

Am Anfang, ja. Wenn ich davor stehe und hineinspringen kann.

Und wenn es fertig ist?

Das ist dann gar nicht so besonders. Okay, jetzt ist es eben fertig. Aber der Keimling des Darauffolgenden oder des Übernächsten krümmt sich ja schon pulsierend im Hinterkopf, und deshalb geht es darum, jetzt endlich mit dieser Sache mal zurande zu kommen, damit das neue Schneefeld betreten werden kann. Um nun doch endlich einmal all das zu vermeiden, was bisher immer zu Erstarrungen und Verkrustungen geführt hat.

Ist da Trost, vielleicht ein bisschen Euphorie, wenn Sie ihm dann in der Ausstellung begegnen?

Das ist unterschiedlich. Aber meistens sehe ich natürlich dort noch umso schärfer die Unzulänglichkeiten, die Misstöne, das Unfertige, das Unwürdige. Das ist peinigend. Das ist wirklich peinigend. Das liegt wahrscheinlich auch ein bisschen in der Natur dieses Mediums, weil dieses Handprodukt, das nun nicht etwa das Korrektiv einer Fotovorlage zum Assistenten hätte, sondern das wirklich eine vollständige Welt darstellt, so schwer zu korrigieren ist. Wo sind die Parameter, die ich wie eine Checkliste, bevor ich es auf die Startbahn lasse, anlegen kann, um letztendlich Punkt für Punkt abhaken zu können? Wenn ich nur Fotos abpinseln würde, wäre das wesentlich einfacher. Ich wüsste ganz genau, wann ich mit malerischen Mitteln den Punkt erreicht habe, an dem es klick macht. Jetzt ist es besser als das Foto. Was ja nur die wenigsten schaffen.

Nach dem Abitur haben Sie Ihr Studium in Leipzig begonnen.

Nein, da bin ich erst mal zum Militär gegangen.

Stimmt, das war wichtig für Sie, wie Sie schon andeuteten.

Zumindest empfinde ich das nicht gänzlich als verlorene Zeit, weil ich da eine Reihe von Selbstwahrnehmungen und Beobachtungen machen konnte, die mir vielleicht unter anderen Bedingungen versagt geblieben wären.

Wo waren Sie?

Bei den motorisierten Schützen.

Sie erwähnten die Erfahrung, in diese Kluft, diese Knobelbecher reinzusteigen, die verbunden war mit dem Eindruck, dass die Uniformkleidung ihren Träger aufrichtet.

Sie gibt einem Halt. Seltsam. Also das sehen die Leute ganz unterschiedlich. Ich kann das unmöglich verallgemeinern. Das war meine Empfindung, und ich kann mir gut vorstellen, dass jemand, der aus einem Pastorenhaushalt kam und der in friedensbewegten Zirkeln unterwegs war, viel größere Schwierigkeiten hatte als ich. Für mich war das das Normalste von der Welt, dass ich diese Station passiere, und das so manierlich wie möglich. Ich wollte natürlich auch ein guter Soldat sein.

Sie meinen die körperlichen Anforderungen?

Ja. Wobei man sehen muss, dass, als ich dort 1978 einrückte . . . also da trug man ja langes Haupthaar.

Bei Ihnen auch?

Sicher, langes Haupthaar, verschlissene Jeans und Kettchen. Hippie-Outfit. Es war ja überhaupt nicht vorstellbar, dass es nach dieser Art, sich als Mann zu drapieren, überhaupt noch eine andere geben könnte. Undenkbar. Dass man dahin musste, das war unumgänglich. Aber die Haare mussten ab. Furchtbar.

Im Westen gab es auch eine Minderheit kurzhaariger Angepasster, wie man damals sagte.

Hier war beinahe durchgängig Langhaarigkeit anzutreffen. Wer lange Haare trug, der stand nicht automatisch im Verdacht, ein Systemgegner zu sein.

Interessante Umkehrung zu bundesrepublikanischen Verhältnissen.

Pubertäres Herdenverhalten. So wie sie eben heute Glatze und Ulbrichtbärtchen tragen, diese Zickenbärte der Technofreaks.

Sie meinen Goaties . . .

Wie auch immer. Jedenfalls trug der Genosse Ulbricht Derartiges. Und wenn mir damals jemand gesagt hätte, in zwanzig Jahren laufen die Halbstarken mit unserem seinerzeitigen Spießerklischee angetan herum – unvorstellbar.

Ja, die Listen der Mode. Täusche ich mich, wenn ich meine, bei Ihren Figuren bisweilen einen militärischen Körpergestus wahrzunehmen?

Na ja, die Figuren bei Piero della Francesca und bei Vittore Carpaccio stehen auch verhältnismäßig senkrecht in den Kulissen. Das ist eben geeignet, eine gewisse Würde zu verleihen, vielleicht auch eine gewisse Wehrhaftigkeit und Unantastbarkeit, aus der heraus Ausfallschritte vorstellbar sein können, mehr oder weniger drastischer Art.

Haben Sie selbst beim Militär Wehrhaftigkeit und Ausfallschritte gelernt?

Da ist was dran. Ich habe dort eigentlich erst gelernt, mich durchzusetzen. Ich habe dort zum ersten Mal verbale Auseinandersetzungen mit äußerster Schärfe durchgestanden. Insofern war diese rigide Männerwelt für mich auch eine prägende Stätte. Denn bis dahin war ich ein windelweiches Lämmchen.

Den Wehrdienst kann man ja auch als modernes Derivat eines Initiationsrituals sehen.

Ja, dem ganzen Komplex wohnen viele Archaismen inne. Das macht ihn für mich auch irgendwie zu einer anrührenden Angelegenheit – wenn ich imstande bin, ihn wenigstens für einen Moment aller politischen Begleitaspekte zu entkleiden, wenn ich nur die Form der Unterbringung, der Uniformierung und des Zusammenlebens betrachte. Ich denke dabei etwa an die Speisesaalbilder von Otto Meyer-Amden, der die Internatssituation als Maler auch als anziehend empfunden hat.

Das hat ja auch was Klösterliches.

Darauf will ich hinaus. Auch etwas von einem Orden, wenn man das Soldatische so verinnerlicht. Ich glaube, als Offizier müsste man es so sehen, um überhaupt ein Leben lang diesen Beruf ausüben zu können, dass es eher eine Art Klostergemeinschaft ist mit besonderen Lizenzen.

A licence to kill.

Deswegen halte ich den Waffendienst für Frauen auch für ungeeignet.

Hm?

Wenn schon einer töten muss von Staats wegen, sollte es auf das männliche Geschlecht beschränkt bleiben.

Es gibt da diese Idee von der Gleichstellung der Geschlechter.

Ja, man kann das aber nicht ohne analytisches Betrachten des jeweiligen Sachgebiets über alles verhängen wollen. Das ist Prinzipienreiterei. Denn es handelt sich hier um einen Bezirk, der ganz besonderen Regeln und Zweckbestimmungen unterliegt.

Und warum sollen Frauen nicht dieses schreckliche Los auf sich nehmen, schießen zu müssen?

Ich meine, es sollte noch ein paar Tabus geben. Und eins, das ich gerne in dieser Gesellschaft sehen würde, wäre, dass Frauen nicht in die Situation gebracht . . . nicht der Gefahr ausgesetzt werden, töten zu müssen. Das hält rationalen Argumenten keine fünf Minuten stand, aber es liegt im Wesen von Tabus, dass sie sich nicht rational fundieren lassen müssen. Das sollte aus der Diskurslinie genommen werden.

Also dann zurück nach Leipzig. Im Westen standen die frühen Achtzigerjahre im Zeichen von New Wave und der Wiederentdeckung des expressiven Malens. Wurde das zur Kenntnis genommen in der DDR?

Ja wie war das eigentlich? Lieber Himmel, je öfter ich das gefragt werde . . .

Oh, das tut mir Leid.

. . . desto nebulöser wird mir das Ganze. Umso aschiger werden mir die Worte auf der Zunge. Ich stochere da wirklich in verschollenen Papieren. Wenn ich im Atelier bin, liegen da noch ein paar alte Kritzeleien. Das ist eigentlich alles trist. Man hat sich treiben zu lassen . . .

Ungebrochene Teilhabe am bunten Spaß?

Na. das kommt jetzt drauf an.

Drogen?

Nein!

Kein Haschisch in den Taschen?

Nein, das gab’s nie. Jedenfalls ist es mir nicht begegnet in den Achtzigerjahren.

Aber später?

Ja natürlich. Aber das bringt nichts. Es bringt mir nichts.

Was haben Sie probiert?

Na, das werde ich jetzt keinem Millionenpublikum erzählen. Ach nein, Katalysatoren dieser Art . . .

Nun ja, Sie sind Erst-Jünger-kontaminiert. Es hängt wohl letztlich an der Frage, nützt es mir unterm Strich mehr, als dass es mich ermüdet oder von meinem Thema abbringt?

Oder wächst in mir ein Zombie heran, der dann irgendwann meine Hülle sprengt und plötzlich an meiner Stelle Präsenz zeigt?

Bei aller Unschärfe des Erinnerns: Wie haben Sie den Beginn Ihres Studiums erlebt?

Ich kam bis dahin nicht so recht heraus aus einer merkwürdigen Diffusität, aus einer Indifferenz der Haltung. Einerseits wurden wir ja immer eingeschworen durch teilweise absurde Rituale . . .

Jugendweihe . . .

Fahnenappelle. Andererseits war da diese verdruckste Protestiererei. Das heimliche Losprusten in der hinteren Reihe. Ich für meinen Teil hatte bis dahin nichts erlebt, was in mir eine renitente Reaktion hätte befördern können. Bis ich 1981 schließlich peu à peu in Berührung kam mit Haltungen, die sich deutlich abhoben.

Hochschulintern?

Auch. Dann vor allem bei ehemaligen Kommilitonen meiner Eltern. Das waren für mich die frühen Achtziger in Leipzig, dieses Erleben ganz anderer Verhaltensmuster, ganz anderer Formen des Umgangs mit repressiven Gegebenheiten, couragierte Auftritte von Leuten auf Ämtern und Behörden.

Ziviler Widerstand.

Na ja. Dann auch diese Zirkel, diese salonähnlichen Zusammenkünfte von Intellektuellen und Künstlern. Das war für mich etwas vollkommen Neues. Ich hatte ja von klein auf einen schönen Kontakt zu einer Kommilitonin meines Vaters in Leipzig, die einen wunderbaren offenen Haushalt führte, wo ein ständiges Kommen und Gehen war.

Wie man das so braucht als junger Mensch.

Genau. Ich als Provinzwürstchen komme also in dieses Leipzig, in diese kommode Situation. Im Grunde erlebte ich hier die Achtundsechzigergeneration, mit der ich ja bis dahin nicht in Berührung stand, in ihrer DDR-spezifischen Ausprägung. Und es war eben sehr lustig, es wurde viel gefeiert, viel getrunken.

Und darüber hinaus?

Das Schlimmste an der Situation war das Angekettetsein. Man kann ja über den Mummenschanz lachen, über all diese Dumpfbackigkeit des Funktionärstums, die lächerlichen Zeremonien. Dabei lag es auch nahe, eine Art Arrangement zu treffen, um mit diesem Staat zu leben, weil er einen ja auch nährte und schützte. Aber diese Unverschämtheit des Angekettetseins, die wollte ich mir nur noch bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr bieten lassen. Dann müsste ich aber andere Saiten aufziehen. Was heißen würde: das Land verlassen. Gott sei Dank hat mir das Schicksal das Ruder aus der Hand genommen. Ich musste es nicht selbst herumreißen. Der ganze Kahn ist einfach gekentert.

Sie sprachen von der eigenartigen Gefühlsmelange der Situation.

Ja. Wir haben uns ja damals auch an den Montagsdemonstrationen beteiligt, in die ich mich jeden Montag um achtzehn Uhr eingereiht habe, sehr deutsch, und dann nicht über den Rasen gelaufen . . . Aber eben auch an den Tagen, an denen sich im Vorfeld schon Unheilschweres abzeichnete. Wo also durchaus mit einem Schießbefehl zu rechnen war. Dabei habe ich meine Landsleute auch zunehmend kritisch taxiert. Der Blick aus dem Atelierfenster, wenn die Demonstrationsstunde nahte, zeigte dann auch in der herbstabendlich deprimierenden Koloristik diese geduckten Gestalten . . . Es gibt da etwas außerordentlich typisch Osthabituelles.

Ja?

Diese eingezogenen Hälse, diese gekrümmte Nackenpartie. Dazu die kurzen Windjacken, stone-washed Jeans mit weit oben angesetzten seitlichen Taschen, in denen man die Hände verbarg. Was zu weit abgewinkelten Ellenbogen führte . . . Auffällig waren vom Westen Herkommende schon immer durch ihre andere Körperhaltung.

Als Journalistin mit dem Arbeitsschwerpunkt Mode ist mir ein solcher Blick vertraut. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Kleidung, Körper, Accessoires, um zu entziffern, welche gesellschaftlichen und kulturellen Kraftfelder sich atmosphärisch darin formulieren. Orientieren Sie sich als Maler ähnlich?

Ich halte mein Laboratorium so offen, so porös, dass natürlich auch der Zeitgeist hindurchatmen kann. Aber es ist da eben ein Filter. Ich traue dem Medium Malerei allerhand zu, auch die Fähigkeit, besetzt zu werden durch mikroskopisch feine atmosphärische Schwingungen. Warum soll es der Mode nicht auch so gehen? Wahrscheinlich ist sie auch solch ein poröses System, das durchströmt wird von verschiedenen Erkenntnissen. Ich verlasse mich in meiner Tätigkeit sehr auf diese Mikroschwingungen, und daher versage ich mir jegliches konzeptionelles Agieren und vorsätzliches Reflektieren von saisonalen Gegebenheiten und von politischen Tagesereignissen. Indem ich vielmehr mein Personal, die Instrumente, Bauwerke, die immer wiederkehren, vorsichtig hineinbugsiere in jeweils andere atmosphärische Räume.

Was zu Ihrer Haltung der verweigerten Zeitgenossenschaft führt. Ist denkbar, dass sich dies noch ändert?

Also, ich schließe natürlich erst einmal nichts aus. Oder fast nichts. Die Tatsache, dass sich im Augenblick viele an meiner vermeintlichen Sechzigerjahrekoloristik stoßen, kann sich in der nächsten Saison schon völlig umkehren. Da kann unter Umständen den Modenarren dieser Welt genau das in den Kram passen. Plötzlich steh ich an der Spitze in einer saisonalen Situation. Verstehen Sie, was ich meine? Ich habe ja nun auch meine Lektion gelernt.

Sie meinen . . .

. . . die Achtzigerjahre, diese expressive Geschichte. Wenn ich anfange, mich wieder einzulassen auf solche Minidiktatoren, die immer ganz genau zu wissen vorgeben, wo vorn ist . . ., dann sage ich heute, okay, du bist für vorn zuständig und ich eben für hinten.

Interessiert Sie, wie der Betrachter Ihre Bilder erlebt?

Natürlich höre ich das gerne. Das ist auch wichtig, das aufzunehmen. Das heißt, ich frage niemanden. Aber es kommt ja immer wieder vor, dass mir ein Betrachter seine Wahrnehmungserlebnisse präsentiert. Dabei ist es nicht mein vordringliches Interesse, mit meinen Bildern bei irgendjemandem irgendetwas auszulösen. Es muss in meinem inneren Spielautomaten klick machen, dann müssen alle Bälle rasseln. Dann muss es funktionieren, so wie ich es für richtig halte. Wenn es dann auch bei anderen klick macht, umso besser.

NIKE BREYER lebt als freie Autorin in München. Zurzeit recherchiert sie über Springerstiefel und Geschichtsverlust