Urlaub von der Straße

■ In Freistatt, mitten im niedersächsischen Moor, können sich Menschen vom Stress der Wohnungslosigkeit erholen. Die Diakonie wirbt mit Einzelzimmern, Kabel-TV und Einwohnern, die die Gäste akzeptieren, wie sie sind. Text: Milko Haase, Fotos: Kay Michalak

in Plakat in einer schäbigen Bahnhofsunterführung in Osna-brück. „Machen Sie einmal Urlaub von der Straße“, steht da in weiß, orange und blau. Und weiter: Wenn Sie keine Wohnung haben, im Bahnhof, im Park oder irgendwo sonst schlafen müssen, einfach nicht wissen, wo Sie hin können – „dann kommen Sie nach Freistatt“. Im Angebot: Einzelzimmer mit Kabel-TV, Beratung, Arbeit, vor allem aber ein Ort mit 800 Einwohnern, in dem jeder akzeptiert werde, so wie er ist. Der Anruf ist kostenfrei.

Freistatt, Postleitzahl 27259, eine Autostunde südlich von Bremen, mitten im Moor. Nicht Dorf, nicht Stadt, eher eine lockere Ansammlung von Gebäuden aus den letzten einhundert Jahren: zweckmäßig, schüchtern, solide, manchmal grundhässlich wie Haus „Fernblick“, das einzige Hochhaus weit und breit. Ziergehölze überall und Männer auf Bänken, die trinken. Eigenartig still ist es hier, wenn nicht gerade ein LKW die B 214 entlangdröhnt. Ein Plastikschild in einer Fensterscheibe mahnt, dass Arbeit das Leben in der Balance hält. Ankunft in Haus Linde, dem „Haus des Gastes“. Das neue Empfangsgebäude hat sich schön gemacht: Mansardendach, Klinker, eine kleine Rezeption. In den nahe gelegenen Wohngebäuden Einzelzimmer, damit man sich nicht gegenseitig auf die Füße tritt, eine ordentliche Einrichtung, bei der man sich nicht über kollabierendes Mobiliar aufregen muss, ein eigener Fernseher. Dazu „abstinente Zonen“, in denen Alkohol tabu ist. Rund 130 Plätze für wohnungslose Menschen gibt es zur Zeit in Freistatt – einem von der Diakonie geprägten Gemeinwesen, dessen biblischer Name Programm sein soll: Zufluchtsort. Zwei oder drei Wochen bleiben manche der Männer hier, andere Jahre. Durchschnittsalter: 50. Jetzt, kurz vor Winterbeginn, ist ausgebucht. Menschenwürdig und „in Augenhöhe“ wolle man den Gästen begegnen, sagt Diakonie-Mitarbeiter Klaus Schneider. Indes: Sie seien auch Kunden. „Wir verkaufen etwas“, so der 52-jährige Theologe, „nämlich Hilfe“. Und weil der Kunde König ist, auch wenn der Kreis Diepholz und am Ende das Land die Sozialhilfekosten tragen, gibt man sich dem Leiter der stationären Wohnungslosenhilfe zufolge alle Mühe, dass jene, die zu Fuß, per Fahrrad oder Bus nach Freistatt kommen, Gelegenheit haben, sich in Ruhe mit ihrer Situation auseinanderzusetzen – unterstützt von Sozialarbeitern, Psychologen, Sucht- und Schuldenberatern. Ziel ist ein möglichst stressfreies Umfeld, „denn die Wohnungslosigkeit, der Zwang, alles öffentlich zu organisieren, das ist eine unheimliche Anstrengung“, sagt Schneider.

Einer, der es auf der Straße nicht mehr ausgehalten hat, ist der Dachdecker Friedhelm Liefländer. Seit 1986 sei er unterwegs gewesen, berichtet der 63-jährige gebürtige Dortmunder, „doch jetzt werde ich älter“. Liefländer bewohnt seit einem Jahr im „Haus Ahorn“ ein möbliertes Zimmer mit Küchenzeile und Waschgelegenheit. Eigene Teppiche hat er sich organisiert, über dem Bett steht Zinngeschirr, neben der Tür ein Thermometer zum 75. Jubiläum der Spar- und Darlehenskasse Barnsdorf. Liefländer, ein schlanker Typ in Strickjacke und Turnschuhen, sagt von sich selbst, er sei ein Einzelgänger, habe mit Alkohol nichts zu schaffen. „Ich habe es hier unheimlich gut“, meint er und klagt gleichzeitig, dass er sich in Freistatt „lebendig begraben“ fühle. Drei Busse täglich am Wochenende, was solle er da schon unternehmen. Sein bisschen zusätzliches Geld bekommt er durch Plastikarbeiten, Hundefutter-Abfüllen und von „zu Hause“. Einige Mitbewohner nebenan machen derweil „Party“, unterstützt von der Marke Ratskrone. „Ich hau' bald wieder ab“, sagt einer von ihnen, „auf die Straße zurück“. Warum? Persönliche Gründe. „Regenbogen, du sollst eine Brücke sein“, plärrt die Musikanlage.

Die abgelegene Lage im Moor hat direkt etwas mit der Grün-dungsgeschichte Freistatts zu tun: 1899 von Friedrich von Bodelschwingh im Wietingsmoor als „Notstandskolonie“ ins Leben gerufen, sollten hier „Wanderarme“ die Wildnis kultivieren – und gleichzeitig wohl auch die Wildnis in sich selbst. „Das ist Land, das keiner haben will, für Menschen, die keiner haben will“, soll der Freistatt-Gründer gesagt haben. „Arbeit statt Almosen“ hieß das Konzept dazu. Dass das städtische Babylon mit Arbeitslosigkeit, Alkohol und sozialistischer Agitation weit ab lag, kam dem religiös motivierten Gründer nur entgegen. Zum „warmen Hauch barmherzigster Bruderliebe“ gesellte sich fortan strenge Zucht und Ordnung, die auch die jugendlichen „Zwangszöglinge“ zu spüren bekamen, die es in Freistatt von Beginn an gab. Soziale Disziplinierung, Zwangseingemeindung in die Volksgemeinschaft, Fremdarbeiter, die während der NS-Diktatur im Moor schuften mussten – auch das gehört zur Geschichte dieses Ortes, der seit 1923 eine politische Gemeinde ist, aber immer noch praktisch zu 100 Prozent der Diakonie gehört.

Heute verstehen sich die Freistätter als „soziales Dienstleis-tungsunternehmen“ für – insgesamt eintausend – Schüler und Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen oder ohne Schulabschluss, für psychisch Kranke, Männer mit schweren Alkoholproblemen, alte Menschen – und Wohnungslose, die stationär und ambulant betreut werden. Auch für Frauen aus dieser Gruppe soll es künftig einige – regional verteilte – Plätze geben. In den Freistätter Produktionsbetrieben („FreiPro“) existieren 60 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und die Möglichkeit, sich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren – unter anderem in einer Tischlerei, der Baumschule oder im „Industrie-Dienstleistungsbereich“. Die ehemals für die Torfproduktion genutzten Moorflächen werden renaturiert.

Die isolierte Lage Freistatts hält Bereichsleiter Schneider auch noch heute für geeignet, um Abstand vom gewohnten städtischen Umfeld zu gewinnen. Gleichzeitig zwinge sie die Einrichtung dazu, offensiv an die Öffenlichkeit zu gehen. Man könne sich nicht einfach hinsetzen, aus dem Fenster gucken und „Hoppla, da kommt wieder einer!“ rufen, sagt Schneider. Also habe man sich nach dem harten Winter 98/99, als viele auf der Straße erfroren sind, hingesetzt und sich die Plakatkampagne ausgedacht – auch, weil mehr Konkurrenz der einzelnen Einrichtungen untereinander nicht schaden könne. Plakatiert wurde – und wird – seitdem in Nord- und Ostdeutschland. Außerdem bekamen alle deutschen Bahnhofsmissionen den Aushang zugeschickt. Im Nachhinein würde Schneider den auffälligen Slogan „Machen Sie Urlaub von der Straße“ tatsächlich lieber in Anführungsstriche setzen – andere Einrichtungen hätten sich beschwert. Trotzdem – die Sache mit dem Urlaub, das sollte der „Kick“ sein. Neue Wege versuchen die Freistätter auch in einem anderen Bereich zu gehen: Sie wollen stärker „weg von der Anstalt, hin zur Ortschaft“ mit Edeka, Sparkasse, Ärzten und Vereinen. Denn nach wie vor höre man in den umliegenden Gemeinden die Klage, „die holen hier die ganzen Penner her“. Eine Strategie, Vorurteile zu überwinden, ist die Einrichtung eines Baugebiets am Rand des Ortszentrums.

Acht Einfamlienhäuser stehen hier mittlerweile, und einigen davon ist es deutlich anzusehen, dass es „Traumhäuser“ sind. So zum Beispiel das Holzhaus von Familie Wiegmann: Man sei wegen des unschlagbar günstigen Baulands nach Freistatt gezogen, erklärt die 50jährige Irma Wiegmann, die hier gemeinsam mit Ehemann Wilfried und ihrer jüngsten Tochter Elke wohnt. Auch das nahe Naturschutzgebiet und die Ruhe haben eine Rolle gespielt. Klar, es gebe in der Region „massive Vorurteile“ gegenüber Freistatt als Wohnsitz, sagt Frau Wiegmann. Früher hätten die Kinder immer zu hören bekommen, „wenn ihr nicht artig seid, dann kommt ihr nach Freistatt“. Trotzdem: Die Familie sei „super-zufrieden“ mit ihrer neuen Heimat, „wir würden nicht wieder tauschen“. Und mit der speziellen Einwohnerschaft käme man sehr gut klar.

Ex-Dachdecker und Haus-Ahorn-Bewohner Friedhelm Liefländer indes wird seinen Ruhestand garantiert nicht Freistatt verbringen. „In zwei Jahren, da krieg' ich meine Rente“, sagt er. „Dann hole ich mir 'nen Campingwagen und stell' mich an den Rhein hin.“ Ein Platz dafür hat er schon.

Diakonie Freistatt, Wohnungslosenhilfe, Lindenstraße, Haus Linde, 27259 Freistatt, Kostenlose Service-Nummer: 0800/1008876