Kulturtourismus in die Tiefen der Zeit

Begegnung in der Grashütte – Wüstenhimmel, Wurzeln sammeln und Trancetanz. Sechs Tage als zahlender Gast im Lager botswanischer Buschleute. Was für den deutschen Touristen ein bisschen Theatercharakter hat, ist für die Buschmännern ein ernsthafter und willkommener Versuch zu überdauern

von STEFAN SCHOMANN

Drei kleine Feuer, deren Funken zu den Sternen stieben. Tanzende Männer, tanzende Schatten. Gellender Gesang der Frauen über unentwegtem Klatschen. Ich sitze auf dem kühlen Velours des Sandes und fühle ihn beben unter ihren Tritten. Ein Hüttenlager am Westrand der Kalahari. Später Abend. Die Buschleute von Buitsivango führen einen Trancetanz auf, einen schmerzlich schönen Reigen. Aber bislang will es nichts Rechtes werden mit der Trance; gestern jedenfalls lief alles besser. „Ihr singt ja wie die Affen!“, blafft der Vortänzer den Chor der Frauen an. Die lachen ihn aus und stimmen einen neuen Gesang an.

Ich fürchte, es hapert aus einem anderen Grund. Gestern saßen wir nicht dabei. Sieben erwartungsvolle Touristen, nun schon den fünften Tag zu Besuch. Oh, wir sind hochwillkommen, wir bringen Abwechslung, ein wenig Hoffnung, und wir bezahlen gut. Aber ist das ganze Unterfangen nicht dennoch penetrant, tolpatschig? Zwei Stimmen duellieren sich in meinem Kopf.

Die Buschleute im tiefen Süden Afrikas, die je nach Definition auch als San oder Khoe-San angesprochen werden, verkörpern fast mustergültig den Mythos vom edlen Wilden. Von einer selbstbestimmten Existenz im Einklang mit der Natur. Von der Freiheit, hierhin und dorthin zu schweifen. Vom Aufgehobensein in einer überschaubaren Gemeinschaft. Gleich nach den wilden Tieren gilt ihnen heute das Hauptaugenmerk der Touristen in Botswana und Namibia. Meist beschränkt sich der Kontakt aufs obligatorische Gruppenfoto, den Kauf eines Armbands und eine geschwinde Tanzdarbietung. Wir verbrachten immerhin sechs Tage bei Buschleuten vom Stamm der Nharo. Streiften mit den Frauen durch die Kalahari, um Essbares zu sammeln. Zogen mit den Männern auf die Jagd. Spielten ihre Spiele und lauschten ihren Märchen. Und nun sitzen wir im Feuerschein und schauen und warten und träumen.

Hartmut, ein deutscher Geschäftsmann Mitte sechzig, zückt abwechselnd Foto- und Videokamera und schleudert Blitze in die Runde. Daneben hockt Peter, ein englischer Unternehmer, der lächelt wie ein Lausbub und sein Bier genießt. Zu seinen Füßen John und Alex, das flippige junge Pärchen aus Australien, er Finanzjongleur, sie Aromatherapeutin. Sie versuchen mitzuklatschen, was aber bei den schnellen, synkopierten Rhythmen nie so recht gelingen will. Drüben schließlich thront Phyllis, eine hagere Amerikanerin „jenseits von 59“, die vom ersten Tag an für Heiterkeit sorgte, als sie ihren Operngucker nicht mehr von dem Geiernest wenden wollte. Heute kam sie mit ihrem Taschenventilator zu nah an eine Haarsträhne. Andrea hat sie dann fachkundig befreit. Andrea Hardbattle, 55, ist die ungewöhnlichste Friseurin, der ich je begegnet bin. Hellhäutig und mit glattem, blond gefärbtem Haar, gehört sie dennoch zu den Gastgebern. Ihr Vater war ein exzentrischer weißer Farmer, ihre Mutter zur Hälfte eine Nharo. Der Name Hardbattle hat in der Kalahari charismatischen Klang. 1992 nahm von hier aus eine Sammlungsbewegung der Buschleute ihren Anfang: „Kgeikani Kweni – die ersten Menschen der Kalahari“. Andreas Bruder John war Mitbegründer dieser Organisation, kämpfte für Selbstbestimmung, für Landrechte und gegen die Diskriminierung, welche die Buschleute in Schulen, Behörden und in der Öffentlichkeit Botswanas erfahren. Als er 1996 starb, gab Andrea ihren Frisiersalon in der Hauptstadt Maun auf und kehrte auf die Ländereien der Familie zurück. Was sollte aus ihrem Grund und Boden werden und dem halben Dutzend Buschmannfamilien, unter denen sie aufgewachsen waren? Die Viehzucht hatten sie schon vor Jahren aufgegeben. Nun wollen sie ihre 30.000 Hektar in ein Wildreservat umwandeln, um Safarigäste anzulocken. Die Zäune, welche die karge Savanne durchkreuzen, bauen sie nach und nach ab. „Als wir noch Vieh hielten, haben wir die Löwen mit allen Mitteln verjagt. Was gäben wir jetzt dafür, wenn sie zurückkehrten.“

Andrea tat sich mit Ralph Bousfield zusammen, der im Nordosten der Kalahari ein luxuriöses Zeltlager betreibt, „Jacks Camp“. Ralph ist 39 und als Sohn eines legendären Jägers in der Wildnis großgeworden. Die sehnige Gestalt flackernd beleuchtet, das Haar in Kaskaden über die Schulter – so sitzt er neben mir im Sand. Konnte er seinen Klienten bieten, was sie sich erträumten? Und konnte er halten, was er den Buschleuten gelobt hatte: ihnen mit Würde und Feingefühl zu begegnen, ohne sie zu bevormunden? Die erste Begegnung brachte eine Enttäuschung für die Touristen: Nicht im Fellschurz lief das Naturvolk herbei, sondern in zerschlissenen Klamotten, die aus einer Altkleidersammlung stammen könnten. In unseren Augen sehen sie schäbig darin aus – sie aber tragen sie mit Witz und Stolz. Xhoma trägt gar die Reste einer blauen Uniform zur Schau; wir nennen ihn den Platzanweiser. „Wir haben unsere Felle schon vor zwanzig Jahren abgelegt“, erklärt er, „die galten doch als primitiv.“ Nach der Ankunft bezogen wir unsere Hütten aus Akazienästen, kleine, grasgedeckte Kuppelbauten, die auch in der größten Hitze kühl und luftig bleiben. Zwei Feldbetten passen knapp hinein, dazwischen ein Tischchen mit einer Taschenlampe und der Thermosflasche mit Trinkwasser. Etwas abseits ist hinter einer Palisade ein Wassersack als Dusche aufgehängt, daneben glänzt ein Toilettenthron aus Mahagoni. Auch einen offenen Speisesaal haben die Buschleute uns aus Ästen und Gras errichtet, nur dass er einen Kopf zu niedrig geraten ist.

Nicht alles an unseren Gastgebern ist so westlich wie ihre Garderobe – wie Phyllis bemerken musste, als wir mit vier Frauen zum Sammeln auszogen. Sie rochen, nun ja, etwas wild. Unwiderstehlich aber klang ihr Erntegesang. Den Grabstock in der Rechten, den Säugling auf den Rücken geschnallt, zogen die vier durch die Büsche. Ihr Blick blätterte in der Vegetation wie in den Seiten eines Lexikons, um dann an drei windigen Halmen einzurasten. Dort gruben sie nach, bis sie aus dem armtiefen Loch eine Knolle zutage förderten, feist wie ein Brotlaib. Wir taten’s ihnen nach. Rupften Sträucher und wühlten nach Rüben. Pflückten süße Beeren und dicke schwarz-gelbe Käfer von den Zweigen. Nach drei Stunden waren die Felltaschen mit zwanzig verschiedenen Artikeln prall gefüllt, darunter auch eine Duschgel-Wurzel und eine, die gegen Arthritis hilft. Und eine Trüffel! So dient der Busch den Frauen als Bioladen, Supermarkt und Drogerie. Zurück im Lager wurde die Beute mitsamt der gerösteten Käfer zu einem grünen Brei zerstampft. Wir kosteten Xnisas Rohkostbällchen, sie, weit weniger zimperlich, unseren Mohnkuchen.

Mit ihrem täglichen Savannenbummel leisten die Frauen den wichtigsten Beitrag zur Versorgung. Als wir tags darauf mit den Männern auf die Jagd gingen, kehrten wir mit leeren Händen zurück. Am folgenden Morgen angelten sie zumindest einen Springhasen. Mit einem langen Eisenstab stocherte Xnubé im Bau herum wie ein Klempner im verstopften Abflussrohr. Als er auf etwas Weiches stieß, begann für seine Gefährten die Aufregung und für den Springhasen ein Albtraum. Von oben her wurde er ausgegraben, hervorgezerrt und mit einem Knüppel erschlagen. Für uns ein Drama, für die Buschmänner immerhin ein Kilo delikates Fleisch.

Es geht bereits auf Mitternacht. Singen, Jaulen und Klatschen haben sich zu einem Kontinuum verdichtet. Der Heiler wankt unkontrolliert, sein Gesicht kündet von Schmerzen. Mehrfach torkelt er fast ins Feuer. Dann stakst er mit seinen Streichholzbeinen zwischen den Frauen umher, beugt sich auch zu einem kranken Kind nieder. In Trance kann er Leiden sehen und körperliche Übel austreiben. Er springt zu Alex, der schwärmerischen Aromatherapeutin, presst ihr seine Hände auf Brust und Rücken, singt, keucht und muss dann weiter. Derartige Rituale verbinden die Nharo sowohl untereinander als auch mit ihren Ahnen. Durch eine Kette von Wiederholungen sind sie in der ältesten noch am Ursprungsort bestehenden Kultur der Welt verankert. Der Tanz der Elenantilope und der Gesang vom Regen, auch das große Einmaleins des Überlebens, die Spiele, die Sprache, die Kochrezepte – das alles rührt aus prähistorischer Zeit.

Einen Blick in diese Tiefen der Zeit zu erhaschen, waren wir in die Kalahari gereist. Hartmut beklagte abschließend den „Theatercharakter“ dieses Arrangements, zugleich hat er am hartnäckigsten mit seinen Kameras draufgehalten. Peter war mit allem happy, würde aber das nächste Mal doch in die innere Kalahari vorstoßen wollen, wo noch eine Freischar in Fellschürzen herumziehen soll. Phyllis ließ 100 Dollar Trinkgeld unter der Akazie. John konnte ein schickes Rendezvous mit der Steinzeit vorweisen, Alex obendrein ein kleines Kalahari-Herbarium. Und ich hatte eine außergewöhnliche Geschichte. Die Bilanz der Buschleute fiel dagegen euphorisch aus: Ich soll ausrichten, es möchten noch viele Besuchergruppen kommen. Einen Nachmittag lang palaverten wir über die alten und die neuen Zeiten. Ihr Bild der Weißen erwies sich als bestürzend positiv. Unsere bloße Anwesenheit war ihnen Zuspruch und Privileg. Kulturtourismus erscheint ihnen als „der beste Weg, um zu überdauern“. Fast alle unsere Führer waren über vierzig Jahre alt. Indem wir uns für ihr überliefertes Wissen interessierten, stieg dessen Wert in den Augen der Jungen. Beim Bestimmen der Heilpflanzen, beim Bogenschnitzen, beim Fertigen des Perlenschmucks standen oft Jugendliche dabei. „ Das solltet ihr lernen“, riefen die Erwachsenen halbherzig zu ihnen, die verlegen schwiegen. Zu unbestimmter Zeit begab ich mich in meine Hütte und erwachte früh, als Musik herüberdrang. Die Frauen klatschten und sangen noch immer. Jemand spielte ein Stück auf dem Mundbogen, der sachte schepperte unter säuselnden Obertönen. Eine uralte Stimme in der Unermesslichkeit der Kalahari, fein und flüchtig wie die Buschleute selbst. Eine Musik, wie wohl der Wind sie schreiben würde.