„Politische Utopien im Mikrokosmos umsetzen“

Das exbesetzte Haus Rigaer Straße 94 bekommt voraussichtlich keinen neuen Rahmenvertrag. Anderen Wohnprojekten könnte es ähnlich ergehen

„Wenn das Urteil über den Rahmenvertrag der Rigaer Straße 94 tatsächlich rechtskräftig wird, zieht das weitgehende Konsequenzen für andere exbesetzte Häuser mit sich“, da ist sich Ralf Hirsch, bei der Bauverwaltung für die Betreuung ehemals besetzer Häuser zuständig, absolut sicher. Denn die bisher übliche Praxis, auch bei BesitzerInnenwechsel der Häuser die Rahmenverträge zu übernehmen, wäre damit erstmals außer Kraft gesetzt. Aber Rigaer Straße 94? Rahmenvertrag? Lieber mal der Reihe nach:

Die Rigaer Straße 94, das sind 35 Menschen mit gemeinsamen Projekten und Utopien, verteilt über Hinterhaus und Seitenflügel, mit offenen Wohnstrukturen zwischen den Etagenbereichen, und das alles in einem charmant morbiden Friedrichshainer Altbau. Ein Idyll also. „Aber hier geht es nicht um schöner wohnen oder billige Mieten: Wir wollen vielmehr ein herrschaftsfreies Leben vorstellbar machen“, erklärt Simon, ein Sprecher des Wohnkollektivs. Um an dieser Vorstellung möglichst viele Menschen teilhaben zu lassen, nutzen sie 15 Prozent der Gesamtwohnfläche für öffentliche Projekte. Im Erdgeschoss gibt es eine offene Werkstatt und die „Kadterschmiede“, die Raum für Volxküchen, Feste, Konzerte und politische Veranstaltungen bietet. Eigentlich perfekt – hätte es da nicht vor zwei Jahren einen Besitzerwechsel des seit 1991 legalisierten Hauses gegeben. Denn Suitbert Beulker, der neue Eigentümer, weigert sich hartnäckig, den seit der Legalisierung bestehenden Rahmenmietvertrag zu übernehmen.

Der Rahmenmietvertrag: 1990, nach der Besetzung der Rigaer Straße 94, dauerte es nicht lange, bis die „Berliner Linie“ sich bemerkbar machte. Laut dieser Verwaltungsrichtlinie sollten Neubesetzungen sofort geräumt und bis zum 27. Juli 1990 besetzte Häuser durch Mietverträge befriedet werden. Im Zuge der Verhandlungen bekam auch die Rigaer Straße 94 einen Rahmenmietvertrag, der die kollektive Wohnstruktur in allen Einzelheiten absicherte. Über zehn Jahre lang war es bei exbesetzten Häusern Usus, die Verträge zu übernehmen, wenn der Besitzer wechselte – bis Suitbert Beulker im Herbst 2000 auf der Bildfläche erschien.

Der neue Eigentümer Beulker akzeptierte die alten Verpflichtungen nicht. Verhandlungen am runden Tisch mit den MieterInnen und Hilfe von Barbara Oesterheld (B90/Grüne) und Ralf Hirsch brach er nach dem dritten Anlauf ab. Begründung: Es gebe keine gemeinsame Basis. Allerdings unterzeichnete Beulker zumindestens eine Absichtserklärung für den Entwurf eines neuen Rahmenmietvertrages. Doch statt Planungen folgten Schikanen: Beulkers Repertoire reichte von Anzeigen beim Wirtschaftsamt, fadenscheinigen Kündigungsvorwänden, zugemauerten Fenstern bis hin zum unrechtmäßigen Eindringen in Privatwohnraum. „Tatsächlich ein ungewöhnlich anstrengender Eigentümer“, wie Senatsmitarbeiter Hirsch es vorsichtig formuliert.

Bei einem anschließenden Prozess um den Abschluss eines Rahmenmietvertrages stießen die BewohnerInnen beim zuständigen Richter auf wenig Gegenliebe: Der Vertrag sollte das Recht auf die Vereinsräume im Erdgeschoss untermauern und die kollektive Wohnstruktur absichern. Am 18. 12. 2001 kam es zur Urteilsverkündung. „Die fiel für uns negativ aus. Der Richter meinte zu uns, er hätte auch anders entscheiden können, wollte er aber offensichtlich nicht“, erzählt BewohnerInnen-Sprecher Simon. Auf die Urteilsbegründung müssen sie noch ein wenig warten. Von der hängt es aber ab, ob es sich lohnt, in Revision zu gehen. Senatsmitarbeiter Hirsch ahnt nichts Gutes: „Wenn die Bewohner nicht in Revision gehen oder diese verlieren, dann wäre damit ein Exempel für zukünftige Häuserübernahmen statuiert. Dann wird’s auch für viele andere Wohnprojekte schlecht aussehen.“

Doch damit nicht genug. Einem der Räumungsbegehren Beulkers wurde vom Landgericht Lichtenberg stattgegeben – dem für das Erdgeschoss. Die „Kadterschmiede“, die offene Werkstatt und eine Wohnung sind damit akut räumungsbedroht. Ans Aufgeben denken die BewohnerInnen der Rigaer Straße 94 aber noch lange nicht.

Sie begreifen sich nicht als Einzelfall, sondern als Teil einer bewussten, kapitalorientierten Verdrängung unerwünschter weniger gut situierter Individuen. Deshalb, so betonen sie, liege der Entschluss nahe, sich mit anderen gefährdeten Projekten zusammenzuschließen und den Kampf um den eigenen Wohnraum als einen politischen zu begreifen. So ist für den 26. Januar auch eine größere Demo geplant. Denn „der Versuch, politische Utopien im Mikrokosmos umzusetzen, ist für uns ein unersetzliches Element linker Politik. Dafür müssen wir unbedingt linke Freiräume verteidigen“, hebt Simon hervor. SANDRA PAULI