Schöne Worte für die Kleinen

Nirgends klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei der frühkindlichen Bildung. Während der Bund hehre Ziele formuliert, schränken die Kommunen die Kinderbetreuung ein

von CHRISTIAN FÜLLER

Irgendwie klang das alles nach Weihnachten. Erst freute sich Bundesjugendministerin Christine Bergmann (SPD) darüber, „dass Bildung glücklicherweise wieder Konjunktur hat“.

Dann spendierte sie etwas, was Politiker nicht gerne zu geben bereit sind: eine konkrete Zahl. 30 Prozent der Kinder von zwei bis zwölf Jahren, so kündigte die Ministerin an, sollten schnell die Möglichkeit einer ganztägigen Betreuung bekommen – von den ganz Kleinen in Krippen über Kindergärten bis hin zu Schulhorten für die Teenies. Versprochen ist versprochen.

Und auf dass das verspätete Weihnachtspaket auch Verbindlichkeit bekäme, nannte Bergmann sogar Verantwortliche: Zuständig für die Kindertagesstätten seien zwar eigentlich Länder und Kommunen. Aber, so sagte die Jugendministerin resolut, „mir reicht das jetzt mit dem Schwarzer-Peter-Spiel“. Also werden sich Bund, Länder und Gemeinden auf einem Gipfeltreffen im Juni darüber unterhalten, wie die frühkindliche Bildung tatsächlich verbessert werden kann. Denn „wir haben eine öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern“.

So gut Bergmanns Idee eines Kindergipfels sein mag: Selten hat sich eine Ministerin so weit von der Realität entfernt. Die Situation in den Kommunen, die für die 55.000 deutschen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe erster Ansprechpartner sind, ist so trist wie nie. In den Städten und Gemeinden droht der Kahlschlag, weil sich vor allem große Unternehmen durch ganz legale Steuertricks aus der Finanzierung des Gemeinwohls zurückziehen.

Für die bürgernahe Daseinsvorsorge, wie die verfassungsgemäße Aufgabe der Kommunen genannt wird, bedeutet das mancherorts den Knockout – und betroffen ist davon natürlich auch die Kinderbetreuung. In Bad Soden bei Frankfurt etwa steigen die Kindergartenbeiträge von bisher 250 Mark auf 180 Euro, in Reutlingen hat man Erhöhungen um bis zu 170 Prozent ins Auge gefasst. Mancher Kämmerer stöhnt, dass, selbst wenn alle freiwilligen Leistungen inklusive die der Kinder- und Jugendhilfe auf Null gesetzt würden, ein ausgeglichener Haushalt nicht zu schaffen sei. Land unter bei den Kommunalkassen.

Je düsterer die Realität vor Ort, desto höher scheinen die Ansprüche in der Bundeshauptstadt zu wachsen. Jugendministerin Bergmann ließ sich gestern eine „Streitschrift: Zukunftsfähigkeit sichern!“ des Bundesjugendkuratoriums überreichen, die allerlei hochmögende Ziele formuliert.

Es bestehe die Chance, konstatieren die Berater der Jugendministerin da, „das Bildungspotenzial des Kindergartens anzuerkennen, der auf die Stärkung von Selbstbildung setzt, soziale Fähigkeiten entwickelt, Sprachkompetenz und Freude am Lernen fördert sowie die Erziehung in der Familie stärkt und unterstützt“.

Die Wirklichkeit ist eine andere. Von Bildung ist in den meisten Kindergärten nichts zu entdecken. Aufbewahrung heißt das Motto der allermeisten Einrichtungen. Und nicht einmal die funktioniert. Die reichen Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern etwa schaffen es gerade mal, 1,3 Prozent der Dreijährigen in Krippen zu betreuen. Das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer noch unveröffentlichten Studie herausgefunden.

Von den Erziehungszielen eines Friedrich Fröbel, der 1843 den Kindergarten erfand, sind die Deutschen meilenweit entfernt. Aber in der beschwörenden Wortwahl nähern sich die deutschen Kinder- und Jugendhelfer des Jahres 2002 Fröbel schon an. „Wir müssen der Gefahr eines verkürzten und verzweckten Bildungsbegriffs entgegentreten“, nannte Richard Münchmeier vom Jugendkuratorium seine Vision vom Bildungskindergarten der Zukunft. Seine Kollegin Gaby Hagmanns sprach davon, „Kinder selbst zu Akteuren ihres Bildungsprozesses zu machen“.

Die meisten Kids und ihre Eltern aber sind froh, überhaupt einen Platz im Kindergarten, in der Tagesstätte oder Krippe zu bekommen. Das ist die gesellschaftliche Wahrheit.