Vor den Papierbesäufnissen

Silke Scheuermanns Gedichte wispern miteinander wie Aliens, die nach Hause wollen. Ein Autorinnenporträt

Sie ging nach Leipzig der Liebe wegen und fing in Paris an zu schreiben. Man könnte ihr Leben nach einer Ordnung beschreiben, die von Flüssen abhängt, die durch große Städte fließen. In diesem System wäre der Main zentral. Nachts, wenn er wie ein schimmerndes Stahlband unter den Brücken liegt, prüft Silke Scheuermann ihre Gedichte an seinen Frankfurter Ufern. Mit einer Auswahl debütierte die Leonce-und-Lena-Preisträgerin in der edition suhrkamp.

„Der Tag, an dem die Möwen zweistimmig sangen“ (90 Seiten, 6,60 €) spaltet den hohen Ton der schlaflosen Isolation – „wo wir Einsiedelnde einer am anderen in Betten sitzen“ – in ein Geräusch auf, das gleichermaßen aus der Stadt kommt und aus einer Fantasie wie in Science-Fiction-Romanen. Silke Scheuermanns Gedichte wispern miteinander wie Aliens, die nach Hause wollen. Ein zaghaft-narratives Element verbindet sie, sodass man sie auch wie kurze Geschichten mit präzisen Aussagen lesen kann: „Wer jetzt nicht mehr schläft, dem näht das Licht Perlen auf die Stirn.“

Silke Scheuermanns Gedichte tragen Titel wie „Requiem für einen gerade erst eroberten Planeten mit intensiver Strahlung“ und „Weltraumspaziergang an der goldenen Nabelschnur von Hieronymus Bosch“. Eine Vorliebe für planetarisches Vokabular fällt hier auf. Mit Geringfügigkeitsbetrachtungen geht es merkwürdige Allianzen ein. Die Lyrikerin erläutert sich selbst, wenn sie feststellt: Die Welt, die beim Morgenkaffee noch überschaubar wirkt, wird „alltagsartig“ so groß.

Silke Scheuermann will, dass das „Unverständlich-Verpickelte“ in der Lyrik aufhört. Die aus Karlsruhe gebürtige Theaterwissenschaftlerin des Jahrgangs 1973 stammt aus einem Milieu, das jeder Kunst fern steht. Allenfalls in einer „geheimen Abteilung“ ihres Wunschraums ließ sich etwas in der Art aufheben. Sie war schon über zwanzig, als ihre lyrische Produktion in Gang kam. „Ich habe lange nach meiner Stimme als Autorin gesucht.“ Silke Scheuermann erhält sich mit einer Stelle an der Universität, die ihr zum Schreiben Zeit genug lässt. Eine Schriftstellerexistenz schwebt ihr vor; wie jeder weiß, ist das eine verwegene Aussicht auf die Zukunft.

Silke Scheuermann federt ihren Eskapismus mit Leichtigkeit ab. Ihr Ideal trennt sie von allen massiven Zuschreibungen. Sie spielt mit dem Benehmen vor einer Kulisse, die ihr „kaputt“ erscheint . . . der nur noch eine „negative Schönheit“ abgetrotzt werden kann. Zurzeit schreibt Silke Scheuermann Erzählungen, deren Veröffentlichung bei Suhrkamp vorbereitet wird.

„Papierbesäufnisse“ nennt Silke Scheuermann diese Arbeit, mit der sie sich in einer Opposition sieht zu „den vielen schlechten Erzählern“, die es nach ihrer Auffassung gibt. Als Rezensentin „gönnt“ sie sich gelegentlich Verrisse, die in der FAZ erscheinen.

JAMAL TUSCHICK