„Wir verschenken Potenziale“

Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm fordert, nach Pisa über das gegliederte Schulsystem nachzudenken. Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Gaby Behler ist da ganz anderer Meinung: Sie will lieber die Qualität des Unterrichts verbessern

Das anregungsärmere Hauptschulmilieu bremst die Entfaltung der Schüler

Interview KARL-HEINZ HEINEMANN

taz: Es gibt eine Menge guter Vorschläge, was man nach Pisa tun soll: Ganztagsschulen, Lehrerbildung, frühe Förderung von Migrantenkindern. Aber an eine Frage wollen die Kultusminister nicht heran – an die Schulstruktur. Sie, Herr Klemm, finden, dass man die frühe Auslese in Frage stellen muss. Warum?

Klaus Klemm: Ich verstehe, dass sich die Politiker vor einem neuen Schulformstreit scheuen. Aber wenn ich als Erziehungswissenschaftler die Pisa-Studie lese, stelle ich fest: Sie legitimiert nicht das Ausklammern von Schulstrukturfragen.

Warum?

Klemm: Ein Beispiel: Pisa stellt zwei Schülergruppen mit gleichem sozialem Hintergrund und mit gleicher kognitiver Grundkompetenz nebeneinander. Die eine Gruppe ist in der Hauptschule, die andere ist im Gymnasium. Nach vier bis fünf Jahren Lernen sind die Hauptschüler um 49 Punkte hinterher. 49 Punkte – das ist der Abstand des OECD-Durchschnitts vom Spitzenreiter Finnland. Die Pisa-Autoren sagen, das anregungsärmere Milieu der Hauptschule bremst die Entfaltung des Entwicklungspotenzials der Schüler. Da kann man doch nicht sagen, die Schulstruktur sei irrelevant.

Gaby Behler: Pisa widerlegt sehr wohl die alte These, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser sind. Aber der Leiter der Pisa-Studie, Jürgen Baumert, sagt auch, Pisa taugt nicht als Beleg dafür, die Schulstruktur zur entscheidenden Frage zu machen.

Was wäre so schlimm daran?

Behler: Wir haben mindestens 10, wenn nicht 20 Jahre über Schulstruktur mit guten Argumenten gestritten: Das Ergebnis war ein Rückzug in Gräben bildungspolitischer Auseinandersetzung. Das hat qualitative Entwicklungen und den Anschluss an internationale Debatten verhindert. Wir müssen da ansetzen, wo wir stehen, um die zu gering ausgeprägte Bereitschaft zu Innovation zu fördern. Wenn aber jeder über die Identifikation mit seiner eigenen Schulform in einer Strukturdebatte erst einmal Bedrohungsängste entwickelt, verhindere ich eine produktive Auseinandersetzung. Das wäre das Schlechteste, was uns nach Pisa passieren könnte. Pisa sagt uns: Im Wesentlichen ist die Qualität des Unterrichts zu entwickeln. Das ist wichtiger als die Frage der Schulstruktur.

Klemm: Baumert schreibt aber auch: „Ein unerwünschter Nebeneffekt der frühen Verteilung auf institutionell getrennte Bildungsgänge ist die soziale Segregation.“ Wir können auch im gegliederten System Schulleistungen steigern, das ist unstrittig. Aber wir haben Systemgrenzen, die wir nicht sprengen können. Die hindern uns aber daran, im Leistungsbereich ganz nach oben zu kommen.

Wie wäre das zu schaffen?

Klemm: Pisa besagt, wir brauchen einen breiten Sockel, um in der Spitze gut abzuschneiden. Die Pyramidenform unserer Schule aber, in der wir früh aussondern, um zu Spitzenleistungen zu kommen, lässt zu viele Potenziale auf dem Wege liegen. Andere Systeme mit einem breiten Sockel hingegen sind besser – sie haben gleichsam ein Säule nach oben und sortieren relativ spät auf Abschlüsse hin. Wir verschenken da Potenziale.

Behler: Wir führen eine falsche Debatte, wenn wir Integration gegen Differenzierung setzen. Wir müssen über die Art und den Umfang der Differenzierung sprechen. Dass Leistung und soziale Chancen nicht miteinander gekoppelt sind – das gilt für ganz unterschiedliche Systeme. Daraus kann man auch Veränderungsaufträge für das deutsche System ableiten. Etwa: Wie lange lässt man Kinder gemeinsam lernen? Bevor wir da aber Entscheidungen treffen, sollten wir die Ergebnisse von Pisa E abwarten, dem deutschen Ländervergleich – schließlich haben wir Länder mit längerer Grundschulzeit.

Klemm: Es macht doch keinen Sinn, auf der einen Seite Strukturdebatten abzulehnen und gleichwohl am laufenden Band Strukturpolitik zu betreiben und die Separierung vorzuverlegen: In Bayern für die Realschüler ab Klasse fünf statt in Klasse sieben, Niedersachsen schafft die Orientierungsstufe ab, in Nordrhein-Westfalen werden D-Zug-Klassen eingerichtet. Nicht anders ist es in der Lehrerbildung: Wir führen in Nordrhein-Westfalen wieder die besondere Lehrerbildung für Gymnasiallehrer ein. Damit produzieren wir dieses schreckliche deutsche Bewusstsein, sie hätten die falschen Schüler vor sich. Wenn wir sie schon in der Hochschule nur auf eine Teilgruppe hin sozialisieren, können wir nicht erwarten, dass sie später die Schüler so annehmen, wie sie sind, und sie dann fördern. Wir lernen aus Pisa, dass Separierungen schädlich sind – und separieren trotzdem fröhlich weiter.

Behler: Wir haben in Deutschland eine ziemlich bunte Landschaft, und wir werden ja den Ländervergleich bekommen. Ich hoffe immer noch, dass wir dann nicht in alte Rituale verfallen, wo jeder sich heraussucht, was ihm passt, um seine vorgefassten Meinungen bestätigt zu bekommen. Gegenwärtig scheint mir nur eines festzustehen: Wir haben zu geringe Fördererfolge – und da müssen wir zuallererst ansetzen.

Klemm: Wir müssen doch nicht sehen, ob Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen drei Punkte besser ist. Wir sollten uns an Finnland messen. Wir müssen uns an der Spitzengruppe und am Durchschnitt der G-7-Länder messen.

Eine wichtige Frage könnte lauten: Wie müssen wir unser Schulsystem so ändern, dass wir zum Beispiel die Herausbildung von Hauptschulen als Ghettoschulen verhindern? Stellen wir diese Frage nicht mehr aus Angst vor der Gesamtschuldebatte?

Klemm: Ich befürchte, dass wir vor lauter Angst zu wenig tun. Wir haben Angst davor, dass die Lehrer dagegen sind, dass die Finanzminister es nicht finanzieren. Und wir haben Angst vor der Strukturdebatte, mit der wir furchtbar auf die Nase gefallen sind. Weil wir so viel Angst haben, konzentrieren wir uns auf lauter kleine Maßnahmen. Und dann sitzen wir in sechs Jahren wieder zusammen und diskutieren die gleichen Themen. Wir sollten für ein gewisse Zeit alle Barrieren aus dem Kopf räumen und überlegen: Was wäre besser, was ist durchsetzbar?

Behler: Die alte Gesamtschuldebatte durch eine neue zu ersetzen, würde am Unterricht und seinen Ergebnissen überhaupt nichts ändern. Die Qualität des Unterrichts zu verbessern, ist aber mein Hauptanliegen.

Klemm: Das Separieren von Kindern hindert einige Schüler daran, ihre Entwicklungspotenziale zu entfalten. Es bremst einen Teil der Schüler. Da kann man nicht nur erwidern, es brauche einen besseren Unterricht. Wir kommen um die Strukturdebatte nicht herum.

Behler: Sie müssen doch auch zur Kenntnis nehmen, dass es integrierte Systeme gibt, die weit hinter Deutschland liegen. Es ist nicht die Systemfrage allein.