Im Land der Auslese verkümmert die Seele des Lernens

Warum Deutschland seine Schülerschaft so scharf nach Leistung sortiert und selbst Gesamtschullehrer von ihren „Gymnasiasten“ und ihren „Hauptschülern“ sprechen

„Es gibt kein anderes Land mit so homogenen Lerngruppen“, stellt Pisa-Chef Jürgen Baumert über Deutschland fest, „und trotzdem sind sie uns immer noch zu heterogen.“ Der Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung legt den Finger auf die vernarbte deutsche Wunde: Wir haben Schwierigkeiten im Umgang mit Unterschieden. Eine echte Lernbehinderung.

Schon wieder werden fast vergessene Bildungsschlachten wiederholt. Nach der ersten, heilsamen Irritation durch die Pisa-Ergebnisse wissen nun alle Bescheid. Da sagt ein Lehrer voller Verachtung zu seinen Schülern: „Ich hab’s euch ja immer gesagt, ihr seid die blödesten Schüler auf der ganzen Welt.“ Der FAZ beweist Pisa, dass wir mehr Lateinunterricht brauchen. Die Altlinken wussten immer schon, dass nur Gesamtschulen Rettung versprechen – und vergessen: Unsere Gesamtschulen treiben eine schärfere Selektion als das dreigliedrige System.

Die Hauptschwäche des dreigliedrigen Systems ist, dass es die Schulen aus der Verantwortung entlässt, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern. Sie werden vom Gymnasium in die Realschule und von dort in die Hauptschule exportiert, wo manche Lehrer davon überzeugt sind, Sonderschüler vor sich zu haben. Und komisch: Auch Gesamtschullehrer höre ich von ihren „Gymnasiasten“ und ihren „Hauptschülern“ sprechen. Mit diesem Sortieren werden zwei Chancen vertan: Erstens Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität anzuerkennen, und zweitens zu erkennen, dass die Seele des Lernens die Differenz und nicht die Identität ist. Insofern gibt es eine Ähnlichkeit zwischen der Verehrung der einen richtigen Lösung im deutschen Unterricht und dem Pochen auf den richtigen, in unsere Schule passenden Schüler. Eine unabweisbare Pisa-Lehre ist: Wer die Individualität von Schülern anerkennt, steigert deren Leistung. Wer ihre Differenz wahrnimmt, erhöht die Intelligenz der Institution.

Ein Beispiel für diese Mentalität: In Deutschland wundert man sich über das gute Abschneiden schwedischer Schüler bei TIMSS, der internationalen Mathematikstudie. Das Irritierende für deutsche Bildungsexperten: Wie kommen die Schweden zu diesen Spitzenleistungen, obwohl sie bis zum Ende der gemeinsamen 9-jährigen Schule nicht nach Leistung differenzieren und obwohl es bis zur 8. Klasse keine Noten gibt? Erst recht verwirrt der Oberstufenvergleich, denn die schwedischen Schüler sind international Spitze. Und wieder sagen die Deutschen obwohl, statt es mal mit weil zu versuchen, also vielleicht weil dort mehr als 90 Prozent eines Jahrgangs die Sekundarstufe besuchen und mehr als 70 Prozent eines Geburtsjahrgangs die Hochschulreife erwerben?

PS. Ein kleiner Nachtrag zu den Missverständnissen um die Hamburger Lernausgangslagenuntersuchung (LAU). Die Studie spricht vom „typischen gymnasialen Niveau“, auf dem ein Großteil von Gesamt- und Realschülern sei. Das wurde von mir (taz vom 19. 12.) umgangssprachlich und falsch „durchschnittliches gymnasiales Niveau“ genannt. Rainer Lehmann hat das richtig gestellt und die Zahlen für das durchschnittliche gymnasiale Niveau geliefert. (taz vom 2. 1.) Die von mir genannten Zahlen von 44 Prozent der Realschüler und 55 Prozent Gesamtschülern der Kurse I haben „typisches“ Gymnasialniveau, bei dem zu erwarten ist, im Gymnasium (noch) erfolgreich zu sein. Alles klar? REINHARD KAHL