Vergesellschaftet die Schulen!

Um die deutsche Bildungsmisere zu beheben, brauchen wir mehr als eine von oben verordnete Schulreform. Die staatliche Anstalt Schule muss endlich selbstständig werden

Lehrer und Schüler, Eltern und lokale Akteure müssen die Schule als gemeinsame Angelegenheit begreifen

Die Pisa-Studie hat den deutschen Schulen denkbar schlechte Noten ausgestellt und zu Recht eine lebhafte Debatte ausgelöst. Von Ausnahmen abgesehen, lief sie auf den vorhandenen Gleisen. Aber es reicht nicht aus, Tempo und Besatzung des Bildungsvehikels zu ändern, denn schon die Gleise liegen falsch in der Bildungslandschaft. Die Schulen als staatliche Anstalten taugen nicht mehr dazu, die neuen Aufgaben zu erfüllen und starke Persönlichkeiten ins Leben zu schicken?

Schulen gehören zu jenen Einrichtungen, die den Wandel der Zeiten bisher relativ unverändert überstanden haben. Dabei sind die Veränderungen in der Welt und in der Gesellschaft offensichtlich. Der Status von Kindheit und Jugend, Familie und Schule (Intimität eines geschützten Raumes, Moratorium und Vorbereitung auf den „Ernst“ des Lebens), der fast zweihundert Jahre lang gehalten hatte, löst sich mit der Öffnung der Gesellschaft mehr und mehr auf. Globalisierung, Individualisierung und die leichte Zugänglichkeit von Medien aller Art führen Kinder und Jugendliche in die bunte Welt von mehr Freiheit und Individualität, aber auch in die riskante Welt von mehr Unsicherheit und Brüchen im Leben.

Hinzu kommt eine relative „Entwertung“ von Kindheit und Jugend: Kein Mensch kann mehr erwarten, in seinen jungen Jahren alles zu lernen, was er für den Rest des Lebens braucht. Die Schule bleibt wichtig, und doch entscheidet sie weniger als früher über ein gelingendes Leben. Damit stellen sich zwei Fragen: Was machen Menschen mit diesen Freiheitsgewinnen, die fast immer mit Sicherheitsverlusten einhergehen; wo und wie lernen sie, mit dieser neuen Lage umzugehen? Und: Wie muss eine Lernwelt aussehen, die sie auf eine Lebenswelt vorbereitet, ohne diese gleichsam vorwegnehmen zu können?

Es ist klar: Auch künftig muss eine Schule den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen und was man alles damit machen kann, also Wissen beibringen. Doch dies wird nur einen Teil ihrer Aufgabe ausmachen und vielleicht nicht einmal den wichtigsten. Gute Schulen werden den Schülern Daseinskompetenzen nicht einfach vermitteln, sondern sie diese in der Praxis lernen und erfahren lassen und diese Erfahrungen mit ihnen reflektieren und verarbeiten. Dazu gehört einmal die Kunst, sich nicht unterkriegen zu lassen: Um äußere Brüche ausgleichen und auch Misserfolge schadlos überstehen zu können, brauchen (junge) Menschen ein inneres Gleichgewicht und vor allem Vertrauen in ihr eigenes Handeln. Sie müssen lernen, dass sie durch eigene Anstrengungen etwas erreichen können, und sie dürfen sich durch Rückschläge nicht entmutigen lassen. Das wird umso leichter fallen, wenn Versagenserlebnisse auf einem Gebiet durch Erfolgserlebnisse auf einem anderen Gebiet kompensiert werden können. Das aber ist nur in Schulen möglich, die nicht eindimensional Wissen abfragen, sondern als soziale Orte gestaltet sind, die vielfältigen Aktivitäten Zeit und Raum geben. Nur eine solche Schule wird auch die sozialen Tugenden trainieren, die man braucht, um später Erfolg zu haben.

Starke Individuen, die auch zur Solidarität fähig sind, brauchen starke Lehrer. An die Stelle von autoritären Lehrern früherer Zeiten sind oft verunsicherte Erzieher getreten. Zumal abhängige staatliche Anstalten, am Gängelband einer Kultusbürokratie, Unterrichtsbeamte fördern, aber keine Persönlichkeiten, die Schülern Vorbild, Widerpart, eben Lehrer sein können.

In ihrer Not verweisen die Schulen auf die Familien, die Lehrer auf die Eltern: Mit den Schülern, so wie sie kommen, sei immer weniger anzufangen. Auch in „normalen“ Familien lernen Kinder oft nicht mehr, was sie zu einer erfolgreichen Schulkarriere und fürs Leben brauchen. Aber so lange die einen die anderen als „Zulieferer“ oder als „Reparaturbetrieb“ betrachten, ist etwas grundsätzlich faul im Bildungsstaate Deutschland. Das wechselseitige Unbehagen hat tiefere Ursachen: Die gesellschaftliche Reichweite von Familie und Schule ist kleiner und schwächer geworden. Es ist eine Illusion zu glauben, Eltern und Schule könnten, wenn sie nur wollten, die ganze Erfahrungswelt heutiger Jugendlicher in sich aufnehmen oder gar kontrollieren. Aber sie können, statt sich gegenseitig als feindliche Erziehungsmächte zu belauern, besser zusammenarbeiten, angefangen im Kindergarten.

Doch genau das ist in der Bildungslandschaft nicht vorgesehen. Kindergärten, Familien, Schulen sind ziemlich geschlossene Institutionen. Sie alle tragen wenig zu lebendigen Nachbarschaften und noch weniger zu einer aktiven lokalen Gesellschaft bei. Das dürfte sich so lange nicht ändern, solange die Schulen als staatliche Anstalten betrieben werden. Die Alternative hat jetzt Nordrhein-Westfalen getestet: die selbstständige Schule. Der Staat beschränkt sich auf Rahmenbedingungen, Pauschalzuweisungen und Evaluierung. Lehrer und Schüler, Eltern und lokale Akteure begreifen und betreiben die Schule als ihre gemeinsame Angelegenheit.

Das freilich wäre mehr als eine Schulreform. Es wäre eine neue Form, mehr Demokratie zu wagen. Es wäre ein Stück Wiederaneignung des öffentlichen Raumes durch die Bürger, die Umkehr des langen Prozesses der Enteignung der Gesellschaft durch den Staat, eine Enteignung, die schon mit der Sprache beginnt. Von Nichtregierungsorganisiationen ist die Rede, wenn Bürger Dinge in die eigenen Hände nehmen, von „Not for profit“, wenn es um gemeinnützige Einrichtungen geht. Erst kommen positiv und affirmativ Staat und Wirtschaft, der Rest kann offensichtlich nur negativ beschrieben werden: in den Schulen, auf dem Arbeitsmarkt, in den belasteten Quartieren unserer Städte.

Keiner kann erwarten, in jungen Jahren alles zu lernen, was er für den Rest des Lebens braucht

So betrachtet, wird Schulreform mehr als ein Unterkapitel einer Verwaltungsreform. Sie wird Teil einer kulturellen und sozialen Bewegung: Die demokratische Schullandschaft wird eines Tages charakterisiert sein durch Partizipation, Vernetzung und Lernen durch praktische Aktivitäten. Eine solche enge und aufgeklärte Verbindung von Politik und Pädagogik an den Graswurzeln der Demokratie hat eine gute Tradition, in der griechischen Polis wie im englischen Pragmatismus (politics as mutual education), aber sie stößt in diesem Land auf konservatives Misstrauen gegen die Gesellschaft und die Menschen. Ehemals Linke, die jetzt das Land regieren, haben offensichtlich ihren Vorrat an politischer Fantasie in Jugend- und Jusozeiten aufgebraucht, damals von Vergesellschaftung geträumt und Verstaatlichung gemeint. Jetzt wollen sie lieber nicht erinnert werden. Es braucht noch mehr Pisa-Studien und weitere Anläufe, bis die Debatte endlich die entscheidende Hürde überspringt.

WARNFRIED DETTLING