Der pädagogische Albtraum

Die deutschen Bildungspolitiker sollten endlich das dreigliedrige Schulsystem aufgeben. Es ist nicht nur sozial sehr ungerecht, sondern schadet auch der Wirtschaft

Das Ziel muss sein: Guten Unterricht zu schaffen und die Zersplitterung des Schulsystems aufzuheben

Seitdem Pisa als Chiffre weniger für einen schiefen Turm steht als für die gefährliche Schieflage des deutschen Bildungssystems, glauben die deutschen Kultusminister, die Fehler der Schulen zu kennen: Der Unterricht ist zu schlecht, die Kleinen werden in Kindergärten und Grundschulen zu wenig gefordert und die Zuwandererkinder nicht ausreichend gefördert.

Das sind alles Defizite. Aber sie verstellen den Blick auf das Kernproblem deutscher Bildung: die Spaltung der Schule. Nirgends auf der Welt existieren so viele Schulformen wie hierzulande. Grund-, Volks-, Haupt-, Real-, richtige und duale Ober-, ja selbst Gesamtschulen sind immerfort damit beschäftigt, Schüler aus- und umzusortieren. Ziel ist der pädagogische Traum der Deutschen: die homogene Lerngruppe. Auch die Bildungsminister klammern sich daran fest, dass es sich in leistungssortierten Klassen am besten lernen lasse. Ein Trugbild. In Wahrheit schafft die dreigliedrige Schule massive Probleme – wie Pisa eindrucksvoll zeigt.

Wenn die international vergleichende Studie eine Aussage sicher zulässt, dann diese: Die deutschen Schulen verhindern den Aufstieg von Kindern sozial schwacher Herkunft, ja sie verstärken familiäre Nachteile sogar. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Sohn einer Kassiererin und eines Hilfsarbeiters einen höheren Bildungsabschluss erreicht als seine Eltern, ist etwa in Finnland viermal so hoch. Das deutsche System ist offensichtlich ungerecht.

Vor allem produziert es wenige gute und viele schlechte Schulabgänger. Das ist ökonomisch und politisch gerade für eine Industrienation dumm. Besonders dieses Pisa-Ergebnis hat hierzulande viele überrascht. Fragt sich nur, wieso? Denn die Forscher untermauern nur, was Alltagswissen jeder Familie ist: Niemand schickt seine Kinder gern in eine Hauptschule, da sie zu einer Restschule der Chancenlosen geworden ist. Das ist auch historisch betrachtet nicht neu: Von der gewollten Untertanenproduktion Preußens bis zur Schule 2002 gibt es eine Kontinuität: Aufstiege sind Zufall, nicht Ziel. Unser Schulsystem ist extrem undurchlässig – daran hat sich nichts geändert, auch wenn jetzt 30 Prozent der SchülerInnen pro Jahrgang Gymnasien besuchen.

Die Auslese des Bildundssystems wird in den jeweiligen Schulen noch verstärkt, da auch dort die guten SchülerInnen gefördert und die schlechten vernachlässigt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die typisch deutsche Sortierung in Gut und Schlecht nach einer extrem kurzen „Frühbildungsphase“ exekutiert wird. Mit anderen Worten: Nach einer zu kurzen Zeit in nur punktuell guten Kindergärten und Grundschulen werden die Kinder in die homogenen Aufsteiger- oder Absteigermilieus des dreigliedrigen Schulsystems gesteckt.

Das Problem ist: Wer einmal in einer Haupt- oder Realschule gelandet ist, kann es kaum noch in eine höhere Schule schaffen. Diese Vorstellung der deutschen Schule hat Pisa bestätigt.

Wenn die erweiterte Pisa-Studie da ist, wird die Hatz auf die Gesamtschule beginnen

Fragt man nun allerdings die 16 Bildungs- und Kultusminister, wie es kommen kann, dass Deutschlands Schulen so ungleich Chancen verteilen, erhält man eine erstaunliche Antwort: Nicht die Gliederung der Schule sei das Problem, sondern die Qualität des Unterrichts. Nun ist guter Unterricht zweifellos eine wichtige Sache, aber die Minister instrumentalisieren dieses Argument, um die Probleme der dreigliedrigen Schule zu leugnen.

Was die Politiker gern in zwei Fragen zerlegen wollen, gehört in Wahrheit zusammen: die Gliederung der Schulen nach Leistung und die Unterrichtsqualität. Das zeigen die hervorragenden Ergebnisse, die Schweden und Finnland bei der Pisa-Studie erzielten: Beide Länder haben vor 30 Jahren vom gegliederten Schulsystem auf die Einheitsschule umgestellt. Und: Sie haben eine hervorragende Unterrichtsqualität erreicht, weil sie Schüler sehr unterschiedlicher Gruppen gemeinsam unterrichten.

Wie das im Detail funktioniert, wissen selbst Bildungsforscher noch nicht ganz genau. Sie verweisen darauf, dass in einer heterogenen Klasse ein hohes „Anregungsmilieu“ herrsche, sprich: gute und weniger gute Schüler zusammenbleiben. Die Lehrer können nicht einfach aussortieren, sie sind zu einer differenzierenden Didaktik gezwungen sind. In Japan sieht das so aus, dass Aufgaben gestellt werden, die SchülerInnen verschiedener Leistungsniveaus unterschiedlich beantworten können – die einen rechnen die Aufgabe konkret mit Zahlen durch, die anderen versuchen sich an abstrakten Lösungsmodellen. In Finnland wiederum arbeiten die Kinder auch im Unterricht oft längere Zeit eigenständig – auch das eröffnet verschiedenen Leistungsgruppen Lösungszugänge.

In Deutschland ist die Situation eine ganz andere. Die Auslese als die Kernidee der deutschen Unterrichtsorganisation stellt vor die Didaktik stets den Rauswurf. Lieber die Schüler sortieren statt diffenziert fördern, ist das Motto. Nicht einmal die vermeintlich integrative Schulform Deutschlands, die Gesamtschule, macht vor dem Herauspicken Halt. Dort werden die SchülerInnen in A- und B-Kurse getrennt. Wie selbstverständlich die Idee der homogenen Lerngruppe ist, konnte man zuletzt in Hessen beobachten. Ministerpräsident Roland Koch eröffnete wenige Tage nach der Publikation der Pisa-Ergebnisse ein neues Elitegymnasium. Die Auslese der Auslese.

Die deutschen Kultusminister verteidigen den Irrtum des Bildungssystems: die homogene Lerngruppe

Statt aber die Auslese immer weiter auf die Spitze zu treiben und immer homogenere Lerngruppen zu bilden, sollten sich die Bildungspolitiker lieber fragen: Wie kann man guten Unterricht schaffen und die Zersplitterung der Schulformen schrittweise aufheben? Dazu müssen nicht sofort die Gymnasien geschleift werden, aber man könnte schon bald mit einer total renovierten Grundschule beginnen, die sechs statt bisher vier Jahre dauert. Die pädagogische Idee sollte sich an der Einheitsschule skandinavischen Zuschnitts orientieren, denn so kann man didaktisch erfolgreich mit heterogenen Leistungsniveaus umgehen.

Die Kultusminister denken daran nicht einmal. Sie vertrösten lieber auf den innerdeutschen Ländervergleich, die Erweiterungsstudie zu Pisa, die im Herbst veröffentlicht wird. Das ist kein Zufall, sondern Strategie. Denn in dieser Studie wird, das gilt als sicher, die Gesamtschule außerordentlich schlecht abschneiden. Auf ihrer Basis dürfen die Minister dann gegen die nicht nur bei Konservativen oft ungeliebte Gesamtschule vorgehen. Für viele Bildungspolitiker wäre das ein wunderbares Ergebnis, könnten sie doch endlich zum Halali auf den vermeintlich Schuldigen der Bildungsmisere blasen: Die „Gleichmacherei“. Und damit ihre eigene Schuld an der deutschen Bildungsmisere verschleiern. CHRISTIAN FÜLLER