Faul, aber Spatz

Die Zeit, die kommt, ist nie eine Zeit für großartige und schöne Ballkleider, aber immer eine für große Auftritte: Dagmar von Thomas überzeugt in Pierre Badins Monolog „Chanel No. Sex“ als Coco Chanel im Kleinen Theater

Noch nie war Etienne Balsan jemandem begegnet, der so gerne faul im Bett lag, wie Gabrielle Chanel. „Sie blieb bis zum Mittagessen untätig liegen, trank höchstens einen Milchkaffee und las billige Romane. Das faulste Geschöpf, das man sich denken kann . . .,“ erinnert er sich noch etliche Jahre später in Edmonde Charles-Roux’ Biografie über die Modezarin. Die Ruhe hielt nicht lange vor. Wahrscheinlich war der begeisterte Reiter und vielfache Turniersieger Balsan einer der wenigen, der die schöne Couterière in wirklich entspannter Stimmung erlebten.

Bis zu dem langen Urlaub in den Schlössern und Gärten des Großgrundbesitzers war das Leben Chanels stets von Armut und Arbeit bestimmt. Danach folgte zunächst einmal der stressige Aufstieg zur wohl ersten Self-Made-Millionärin der Modeindustrie. Die ehemalige Klosterschülerin, eines von sechs Kinder des bettelarmen Hausierers Albert Chanel, musste sich ihren Weg in die oberen Zehntausend hart erkämpfen. Aber sie schreckte selbst nicht davor zurück, ordentlich auszuteilen. Nachdem ihre Belegschaft sich erdreistet hatte, gewerkschaftliche Forderungen zu stellen, setzte sie ohne die geringsten Hemmungen bei Beginn des Zweiten Weltkrieges etliche tausend Arbeiterinnen einfach vor die Tür.

Sie war sich sicher: „Die Zeit, die kommt, ist keine Zeit für Ballkleider.“ Damit behielt sie Recht, schloss ihre Fabriken und verbrachte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst einige Jahre in der Schweiz, bevor sie sich die Modehoheit zurückeroberte.

Im Schweizer Exil spielt dann auch das Stück Chanel No. Sex von Pierre Badan. In einem gut zweistündigen Monolog entfaltete der Autor das bisherige Leben der sprachgewandten Näherin. Ihre Aphorismen waren berühmt und fließen zahlreich in den Monolog der einzigen Darstellerin des Stücks, Dagmar von Thomas, ein.

In beeindruckender Weise meistert die 1970 mit dem Titel „Berliner Staatsschauspielerin“ ausgezeichnete Charakterdarstellerin die zweistündige Kraftanstrengung. Wehmütig verliebt, mädchenhaft, schwärmt die Aktrice von „Schellenberg“. Der blendend schöne SS-Mann wird da ebenso präsent wie der aktuelle Callboy Günther von Dincklage oder der abgelegte Liebhaber Dimitri Pawlowitsch. Der hatte einmal dem russischen Zaren nachfolgen sollen, aber die Revolution kam dazwischen. „Spatz“ nennt Chanel von Dincklage und wundert sich über die Bezeichnung, mit der seine deutschen Kollegen den ein Meter fünfundneunzig großen Spion belegten.

Lakonisch kommentiert sie: „Nun ja, seinem Intellekt entspricht das ja durchaus.“ Anders als der reißerische Titel vermuten lässt, dreht sich das Stück nicht ausschließlich um die zahlreichen Liebschaften der Französin. Zeitgeschichte und Charakterbilder historischer Prominenz stehen ebenso im Vordergrund. Dass dies gelingt, verdankt sich zu weiten Teilen dem nuancenreichen Spiel Dagmar von Thomas’. Auf dem Boden kriechend lässt sie beispielsweise das Bombardement Berlins am Ende des Krieges vor den Augen der Zuschauer plastisch werden. Aber auch Churchill, den Chanel umgurren wollte, um die Kriegsmacht England zu stoppen, scheint fast im leeren Sessel auf der Bühne zu hocken.

„Ich komme ganz vom klassischen Theater, diese Ungenauigkeit im heutigen Spiel liegt mir überhaupt nicht“, so erklärt Dagmar von Thomas. Alle verfügbare Literatur über Chanel habe sie sich zum Studium der Rolle besorgt. Ihr Spiel gewinnt dadurch eine Gegenwärtigkeit, die bar jeden Zufalls stets bis zum Äußersten konzentriert ist.

RICHARD RABENSAAT

Im Kleinen Theater, Südwestkorso 64, Steglitz, bis Mitte Februar. Nächste Vorstellungen: am 18., 19., 20. 1., jeweils um 20 Uhr