normalzeit: HELMUT HÖGE über das Hauptquartier der Westgruppe der Roten Armee Wünsdorf
Lebensqualität und vor allem -quantität
In der Cafeteria auf dem riesigen Kasernengeländes hängt ein Plakat: „Cappucino – das neue Trendgetränk“. Um die Kantine herum hat man die Edelbaracken der ehemaligen Heereszentrale mit Kamelhaarpinsel renoviert und zu einer „Bücherstadt“ umfunktioniert. Jetzt sitzen dort auf allen Etagen Antiquare – und warten inmitten von circa einer halben Million Bücher auf Kunden. Zwar sind die Preise hier höher als im restlichen Ostdeutschland, dafür ist die Auswahl größer – sieht man mal vom Internetbestelldienst ZVAB (www.zvab.com) einmal ab.
Deswegen fahre ich immer wieder gerne in diesen aufgemotzten Ortsteil von Zossen, der größer ist als das inzwischen völlig heruntergekommene und weitgehend entvölkerte Zossen. Der brandenburgische Staat scheint den Antiquaren eine Kundenausfall-Kompensation zu zahlen, denn ein Kölner hat dorthin sogar seine beste Mitarbeiterin abkommandiert. Da sitzt sie nun – und wartet auf Büchersammler.
„Mein Antiquar“, ein Philosoph aus Leipzig, macht seinen Umsatz in seinen Berliner Filialen, in Wünsdorf will er nur seinen Bestand computerisieren, damit der Mitarbeiter dort wenigstens etwas zu tun hat. Nahezu überall, wo Manfred Stolpe den Landesliegenschaften nach der Wende „neues Leben einhauchen wollte“, sind diese Von-oben-Initiativen voll in die Spendierhose gegangen.
Jetzt wurde auch noch seine dafür zuständige Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) mit 600 Mio DM Minus liquidiert – deren größtes und teuerstes Objekt eben Wünsdorf war: Allein auf diesem 600-Hektar-Gelände wurden über 250 Millionen Euro verballert – bisher. Fast die Hälfte der renovierten Kasernen steht leer.
Dort, wo sie bewohnt sind, hat man schändlicherweise Russlanddeutsche und märkische Sozial Schwache zwangskonzentriert. Immerhin gibt es dadurch eine russischsprachige Kontinuität seit dem Abzug der Roten Armee. Aber die sowieso schon als gebrauchswertorientierte Handarbeiter schwer gehandicapten Zuspät-Aussiedler sind hier völlig isoliert – und das Städtchen Zossen nebendran ist inzwischen ein braunes Nest geworden.
Ein Freiwilligenprojekt von sibirischen Mennoniten hat die LEG abgeschmettert, weil es zu dörflich-naiv gedacht war. Dafür wurde sie mit dem bayrischen Spekulanten Spreng einig, der dort – peng – 265 Sozialwohnungen schuf. Daneben wurden per Dekret die brandenburgischen Finanzbeamten angesiedelt. Einigen Abteilungsleitern scheint man den Umzug ins Nichts offensichtlich mit einer schicken Wie-Neu-Villa schmackhaft gemacht zu haben.
Aus der ehemaligen Kommandantenvilla ist ein Lokalgeschichtsmuseum geworden. Eine alte Kosmonauten-Skulptur gibt es auch noch. Drumherum stehen auch noch etliche WK-zwo-Bunker – teilweise aufrecht, sowie ganze Straßenzüge mit verfallenen Panzergaragen. Eine schaurige Mischung alles zusammen. Dazu kommt noch Alt-Wünsdorf auf der anderen Bundesstraßenseite, wo man sich das ganze „Konversionsprojekt Waldsiedlung mitsamt ihrer Bücherstadt“ am liebsten wegwünschen würde.
Wie immer, wenn eine Altherrenriege ihr Pulver verschossen hat, kommen die Managerinnen ans Ruder: Die LEG-Liquidatorin heißt nun Carmen Berg, und die ohne Gehalt sich engagierende Bürgermeisterin Sabine Brumm. Letztere flehte den Vor-Ort-Rechercheur geradezu an: „Schreiben Sie was Positives!“ Das ging dem dann aber doch zu weit.
Ich verglich dagegen dieses Monsterprojekt neulich mit einem anderen, das gänzlich auf so genannten Privatinitiativen basiert: Bad Saarow. Das einstige Gorki-Domizil am Scharmützelsee ist heute ein Mega-Golf-Tennis-Segel- und Wochenend-Vögel-Center für Berliner Neureiche. Und soll sich angeblich rechnen!
In den Cafés von Alt-Saarow wimmelte es von freiwilligen Spießerinnen mit Faltengold, und auf den Greens zerstocherten solarisierte Blondinen den Event-Rasen mit ihren Highheels. Da wendete sich der Gast mit Grausen – und solidarisierte sich lieber mit dem nach Wünsdorf verdonnerten skurrilen Haufen.
Als ich ankam, hatte gerade die Basketballmannschaft Karaganda gegen Omsk 16:12 gewonnen – und den Verlierern eine Runde Wodka spendiert. Da kam gleich Freude auf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen