Kirschblüten und Nadelstreifen

Hinter der Fassade aus Hightech und Megamoderne verbergen die Tokioter ein Herz, das für den Klang derfallenden Blätter schlägt. Der Poesie bleibt dennoch wenig Raum: Zur Mittagspause müssen zehn Minuten reichen

Der Nachbar hört stets mit: beim Stuhlgang, beim Zähneputzen, beim Sex

von ANDREA STRUNK

„Aus Tau bin ich entstanden, wie Tau verlösche ich. Mein Leben war ein Traum von Träumen.“ Herr Sakai klappt das Buch zu und schweigt ergriffen. „Verzeihen Sie“, stammelt er schließlich und wischt sich die Stirn. Kleine Schweißtropfen perlen ihm über die Augen, fast könnte man sie für Tränen halten . . . Nein, ein Japaner weint nicht, nicht einmal wenn er seinen Gästen das letzte Gedicht des Schogun Hideyoschi vorträgt, um zu erklären, was sich hinter der Fassade aus Hightech und Megamoderne noch immer verbirgt: ein Herz, das für Samurais und das Schogunat, für den Klang fallender Blätter und die Schönheit der erblühenden Kirsche schlägt. „Bitte“, sagt Herr Sakai fast flehend, „trauen Sie nicht den Dingen, die Sie sehen.

Soll man Tokio meditierend erfahren? Sich in die Mitte einer sternförmigen Kreuzung setzen, über die bei jeder Ampelphase so viele Menschen hasten, dass es einem vor Schreck den Atem nimmt? Sich dem neurotischen Brausen zu vieler Autos, zu vieler Züge, der Dauerbeschallung mit Musik, dem vielfältigen Händlergeschrei überlassen? Dabei nicht den Verstand zu verlieren ist schon genug. Also Augen auf und fühlen. Zuerst auf die Straße aller kapitalistischen Sehnsüchte, die Ginza-dori mit den Edelkaufhäusern Mitsukoschi und Matsuja, mit dem Kabukitheater. Dann zum Kokio, dem Kaiserpalast, der inmitten der modernen Bankhäuser weiß und unnahbar steht, wie fahrlässig vergessen. Oder in die unterirdischen Einkaufspassagen von Schinjuku, jenem Bahnhof mit angeblich zweihundert Ausgängen, wo jeder Ausländer das Überleben üben kann.

Acht Uhr morgens in der Yamanote, der S-Bahn. Kreisförmig läuft sie um die Stadt, und ihre Stationen kennt jeder Tokioter auswendig. Der Bahnsteig ist voll mit sarari-man, das ist die japanische Version des englischen Wortes salary man. Einer wie der andere trägt Nadelstreifenanzug, Schlips, weißes Hemd, dunkle Schuhe, Aktentasche und Handy. Einige Herren vertreiben sich die Wartezeit mit „pantomimischen“ Golfübungen. Als die Bahn einfährt, gehen alle brav hinter die Sicherheitslinie. Beim Einsteigen drängelt niemand. Als nichts mehr geht, kommen Herren mit weißen Handschuhen und schieben noch die restlichen Passagiere mit Gewalt in den Zug. Um diese Stunde hat keiner Zeit zu verlieren.

Gegen zehn Uhr sind dann alle Anzugträger verschwunden. Jetzt kommen Mütter mit auf den Rücken gebundenen Kindern; alte Frauen mit gebeugtem Rücken, in schlichte Kimonos gekleidet, an den Füßen Getas, japanische Holzschuhe; schließlich gut situierte Hausfrauen: Vor dem Abend kommen die Kinder nicht, vor Anbruch der Nacht der Mann nicht nach Hause. Japans Karrieresystem erfordert Einsatz. Oft beugen die Männer sich dem Willen des Chefs, die Frauen sich dem des Mannes. „Wenn ein Nagel herausschaut, schlage ihn ein“, sagt Herr Sakai.

Mittagszeit. Die Anzugträger strömen aus den Bürogebäuden, Restaurants haben manchmal nur fünf Plätze, die besten Nudelrestaurants sind flugs gefüllt, nach fünf Minuten kommt die Suppe, nach weiteren fünf Minuten ist sie verzehrt. Es warten schon die Nächsten. Die Nudeln sind lang, die Brühe heiß, die Stäbchen keine Hilfe. „Schlürfen“, erklärt Herr Sakai, hebt die Schale vor den Mund, packt die Nudeln mit dem Besteck und saugt mit Lust und Lautstärke, „wie ein Staubsauger!“

Was bedeuten die Schriftzeichen, warum haben alle Erdbeeren dieselbe perfekte Form? Kann man rohen Fisch wirklich essen, was ist das schleimige Zeug in brauner Soße, das die Dame im Kimono mit so graziler Verbeugung anbietet, dass man es unmöglich ablehnen kann? Warum, zum Teufel, müssen die Japaner alles fünffach in Plastiktüten verpacken? Ein japanischer Supermarkt ist für jede Ausländerin ein Rätsel. Und die beste Quelle, um sich, sollte sie der Yen in den Ruin getrieben haben, richtig satt zu essen. Überall duftet es verführerisch, werden kleine Schälchen mit Leckereien entgegengestreckt. Hühnerleber in Bohnenmus, Tintenfischembryos in Salzlake. Ob das schmeckt? Nicht fragen, essen. Gesicht wahren.

20 Uhr. Keine Chance auf einen freien Platz in der Yamanote. Alles rennt, alles strömt. Beileibe nicht nach Hause. Nach Feierabend beginnt das wahre menschliche Miteinander: am Kneipentisch und über zu vielen Gläsern voller Bier oder wasserverdünntem Whisky. Mit den Kollegen und dem Chef nach der Arbeit einen zu heben ist Pflicht, dabei ziemlich besoffen zu werden ist Biologie. Die Japaner vertragen eben nichts. Wer will, landet nach der Kneipe noch in einer Bar mit Karaokeanlage, steigt auf die Bühne und singt. Je später der Abend, desto schmerzvoller. „Lilli Marleen“ und „I Did It My Way“ gehören zu den Favoriten. Herr Sakai singt „Sakura“, ein sehr altes, sehr melancholisches Lied über fallende Kirschblüten.

Nach Hause geht es in tiefster Nacht. Furcht hat hier niemand, höchstens davor, die richtige Tür nicht zu finden, die Kurve nicht zu kriegen und am Gartenzaun zu scheitern. Tokio ist abseits der Hauptstraßen so dörflich wie damals, als es noch Edo hieß. Jeder kennt hier den anderen, ein Spaziergang durch die Straßen ist eine Folge höflicher Verbeugungen.

Identifikation findet mit dem -ku, dem Bezirk statt. Die meisten von ihnen sind Idyllen mit allen dazugehörenden Eigenschaften: provinziell, altmodisch, kitschig, sentimental, geborgen. Die Holzhäuser, dünnwandig, dicht an dicht, bergen kaum Geheimnisse. Der Nachbar hört stets mit: beim Stuhlgang, beim Zähneputzen, beim Sex. Manchmal sind selbst zu später Stunde die Läden noch geöffnet. Auch der Friseur bedient seine letzten Kunden, aus dem Waschhaus kommen einige ältere Herren in schwarzen Yukatas, die wie Morgenmäntel aussehen. Der Feuermann klappert mit seinen Hölzern, um die Leute ans Löschen aller Feuer zu erinnern, heutzutage aber mehr ans Abdrehen des Gases.

Herr Sakai ist müde. Als er durch seine Pforte geht, wird der Garten automatisch in Flutlicht getaucht. Sanft fallen die Blätter des Ahornbaumes. Sonst ist alles still. Oyasumi nasai, gute Nacht.

Weitere Infos bei der Japanischen Fremdenverkehrszentrale (JNTO), Tel.: (0 69) 2 03 53, Fax: (0 69) 28 42 81