Man spricht Polnisch

Als Berliner Wirtschaftssenator muss PDS-Frontmann Gregor Gysi nicht im Westen ankommen, sondern im europäischen Osten. Denn dort liegt die Zukunft Berlins

Öffentlich werden die 250.000 osteuropäischen Einwohner in der Hauptstadt weitgehend ignoriert

Manchmal hilft ja ein Blick von außen. Von den drei Autobahnprojekten, die in Polen derzeit zur Debatte stehen, hat die Strecke vom südpolnischen Wirtschaftszentrum Wrocław in Richtung Dresden allerhöchste Priorität. Gleich dahinter kommt die Nord-Süd-Trasse von Gdańsk nach Warschau, mithin ein Ausdruck gestiegenen polnischen Selbstbewusstseins. Erst an dritter und damit letzter Stelle steht die Route von Warschau über Poznań nach Berlin.

An letzter Stelle zu stehen, daran hat man sich in der deutschen Hauptstadt gewöhnt. Im Ländervergleich prügelt sich die Hauptstadt mit Sachsen-Anhalt um die rote Laterne, und in den Wirtschaftsbeziehungen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern verliert Berlin ständig an Boden. So ist der Anteil Berlins am Warenaustausch mit Polen im Vergleich zu den anderen Bundesländern deutlich zurückgegangen, von 2,87 auf nunmehr 1,82 Prozent. Spitzenreiter sind dagegen Nordrhein-Westfalen (28 Prozent), Niedersachsen (15) und Bayern (knapp 12 Prozent).

Berlin ist nicht nur wirtschaftliches Schlusslicht, Berlin liegt auch am Rande. Dabei sah es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer ganz anders aus. Im euphorischen Metropolentaumel galt es schon als ausgemacht, dass das „neue Berlin“ im Zentrum des „neuen Europa“ liege. Doch die geografische Lage allein, so muss man zwölf Jahre später feststellen, macht noch keine wirtschaftliche Zukunft. Dazu bedarf es auch einer „inneren Geografie“, der kulturellen und mentalen Ankunft an jenen Orten, als deren Mittler und Mittelpunkt man sich begreift. So gesehen muss Gregor Gysi als Berliner Wirtschaftssenator nicht im Westen ankommen, sondern im europäischen Osten.

Zwei Jahre vor der EU-Osterweiterung übt man sich in Berlin freilich noch immer im Blick gen Westen, vergleicht „New Berlin“ so gerne mit Swingin’ London und freut sich, dass die deutsche Hauptstadt hinter London, Paris und Rom bereits Platz vier auf der Beliebtheitsskala der europäischen Städtetouristen erreicht. Mit dieser hartnäckigen Westorientierung ignoriert man die tatsächliche Lage Berlins – und damit auch die Erwartungen und Hoffnungen auf der anderen Seite der Oder. Mit Szczecin, Poznań und Wrocław liegen allein im Umkreis von dreihundert Kilometern drei polnische Großstädte mit jeweils mehr als einer halben Million Einwohner. Neun Millionen Menschen leben in diesem Radius, und alle orientieren sie sich in Richtung deutsche Hauptstadt. Die Stettiner fliegen von Berliner Flughäfen, die Breslauer pendeln inzwischen öfter nach Berlin als nach Warschau, und die Posener Messe hat sich für polnische Unternehmen als wirtschaftliches Sprungbrett nach Westeuropa etabliert. Nur für die Berliner endet die europäische Grenze noch immer an Oder und Neiße.

Das gilt auch für die Berliner Wirtschaftspolitik. Zwar gibt es unzählige Organisationen und Institutionen, die für sich in Anspruch nehmen, Berlin endlich zur lange ersehnten Ost-West-Drehscheibe zu machen. Doch mehr als ein paar Sonntagsreden sind dabei bislang nicht herausgekommen. Mit großspurigen Berlin-Präsentationen unter dem Motto „Go West – Go Berlin“ oder der symbolischen Einweihung von 500 Meter Radweg von Warschau nach Berlin wird man die Hauptstadt nicht wirklich vom Rand in die Mitte rücken. Erst recht nicht, wenn man wie SPD, Grüne und FDP bei den gescheiterten Ampelverhandlungen dem Koalitionsvertrag folgenden Satz einverleibt: „Die Osterweiterung der Europäischen Union muss zur Kennntis genommen werden.“

Doch es sind nicht nur mangelnder Wille und fehlende Einsicht in die tatsächliche Wirtschaftsgeografie der Stadt, die Berlin immer noch zur europäischen Provinz machen. Es sind auch strukturelle Defizite. Statt in der Senatskanzlei eine Stabsstelle einzurichten, die alle Aktivitäten in Richtung Osteuropa – seien sie nun wirtschaftlicher oder kultureller Natur – koordiniert, wurschteln die verschiedenen Akteure munter vor sich hin, ohne den andern auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Kein Wunder also, wenn sich der ehemalige Polnische Handelsrat in Berlin beschwerte, dass man beim brandenburgischen oder sächsischen Ministerpräsidenten eher einen Termin bekomme als beim Berliner Regierenden Bürgermeister.

Am meisten jedoch fehlt es den Berlinern an Offenheit und Neugier gegenüber den neuen Nachbarn. Das betrifft nicht nur die Grenzen an Oder und Neiße, die immer noch eher trennen, als dass sie verbinden. Es betrifft auch den Umgang mit Polen, Russen, Litauern, Rumänen und Bulgaren in Berlin selbst. Längst haben die mehr als 250.000 Osteuropäer in Berlin die 130.000 Berliner zählende türkische Community als Einwanderungsgruppe überholt. In der öffentlichen Wahrnehmung dagegen spielen sie keine Rolle. Eine solche Missachtung von humanen und wirtschaftlichen Ressourcen wird man sich freilich nicht länger leisten können, ebenso wenig wie die beharrliche Weigerung der Schulverwaltung, Polnisch flächendeckend als zweite Fremdsprache anzubieten.

Es war der Berliner Osteuropabeauftragte Wolfram Martinsen, der sich zuletzt bitter über diesen Mangel an „Begegnungskultur“ beklagte. „Manchmal beobachte ich Manager, wie sie sich bemühen, sich auf die Kultur und die Businesskultur in Frankreich einzustellen oder in Amerika, in England“, sagte der ehemalige Siemens-Manager. „Wenn die gleichen Manager nach Polen gehen, werfen sie alles über Bord und tun so, als kämen sie als Entwicklungshelfer.“

Die Breslauer pendeln öfter nach Berlin als nach Warschau. Nur für die Berliner endet Europa an der Oder.

Anstatt also ständig über mangelnde Visionen für die deutsche Hauptstadt zu lamentieren, sollte im neuen Senat endlich mit dem Naheliegenden begonnen werden. Die Agenda liegt auf der Hand. Sie reicht von der Anerkennung osteuropäischer Schul- und Berufsabschlüsse über die bessere Integration russlanddeutscher Jugendlicher bis zu polnischen Hinweisschildern an den Flughäfen und Fernbahnhöfen und dem Ausbau der Bahnverbindungen in Richtung Stettin und Breslau. Dorthin geht es schließlich immer noch im Stop-and-go-Verkehr. Ein selbstverständlicher Umgang mit der Lage Berlins als Grenzstadt umfasst schließlich die Öffnung der Stadt in Richtung Osteuropa ebenso wie die Offenheit gegenüber den osteuropäischen Bewohnern und Migranten.

Anders als die gescheiterte Ampelkoalition hat der rot-rote Senat im Koalitionsvertrag mit dem Stichwort „Europafähigkeit der Berliner Verwaltung“ immerhin Besserung versprochen. Es bleibt allerdings fraglich, ob der neue Wirtschaftssenator Gysi mit seinem Drang nach Westen dafür der Richtige ist.

UWE RADA