Die schwankende Raumzeit

Das Arsenal zeigt eine Retrospektive mit Filmen von Heinz Emigholz. Da verschenkt sich Zeit in proustschen Dimensionen, Natur wird in Kultur übersetzt und die Lebendigkeit der Dinge pointilistisch erfahren

Auf der Liste von Heinz Emigholz stehen noch 19 Filme, die er in nächster Zeit fertig stellen will. Insgesamt sind so bereits 680 Kinominuten vorgeplant – an die zehneinhalb Stunden für ein Projekt, das den Titel „Photographie und jenseits“ trägt und sich mit dem Modell eines „architektonischen Erinnerungsraums“ beschäftigt. Das ist viel Zeit für Erinnerung, fast schon in proustschen Dimensionen.

Doch dem Filmemacher und Professor für experimentelle Filmgestaltung an der neuerdings in UdK umbenannten HdK geht es gar nicht so sehr darum, gefilmte Zeit und gelebte Zeit anzugleichen, bis das Wunder der Verschmelzung von Kunst und Leben eintritt. Einheit interessiert ihn nicht, im Gegenteil: Bei Emigholz werden die Zusammenhänge von Zeit und Raum immer wieder auf die Probe gestellt, geraten ins Schwanken und brechen in der vierundzwanzigstel Sekunde eines Schnitts auseinander.

Schon in den ersten Filmen, die er in den frühen Siebzigerjahren gedreht hat, sind die Ebenen von Wahrnehmung und Erzählung verschoben. In „Schenec-Tady III“ von 1972/75 rotiert die Kamera um ihre eigene Achse und filmt dabei Bäume am Rande einer Waldlichtung. Die Sequenzen wiederholen sich, manchmal werden Negativbilder oder gespiegelte Aufnahmen eingestreut, bis die Bewegung einem Rauschen sehr nahe kommt. Es ist eine experimentelle Anordnung von Natur, die Emigholz aufzeigt und gleichermaßen in Kultur übersetzt.

Dieser Wille zur Struktur wird für den Betrachter manchmal ganz bewusst zur Strapaze. Die Serie „The Basis of Make-Up“, an der Emigholz seit über 20 Jahren arbeitet, besteht aus seinen ständig neu edierten und in Stop-Motion abgefilmten Notizbüchern, in die nach Art brinkmannscher Tagebücher Zeitungsartikel oder Reklameschnipsel eingeklebt sind. Die schnelle Abfolge macht zwar den enormen Fundus an Material sichtbar, die Texte werden dagegen vollkommen unlesbar. Man ist gezwungen, die Aufzeichnungen als abstrakten visuellen Code zu akzeptieren.

Das gilt auch für die Spielfilme, in denen Menschen und Dinge verkontextet werden. „Der zynische Körper“, der 1991 im Forum der Berlinale lief, bringt fünf Menschen zusammen, die anhand der Notizbücher ihres verstorbenen Freundes Roy die gemeinsame Vergangenheit noch einmal durchgehen. Dabei schieben sich die erinnerte Zeit und die aktuellen Situationen immer mehr ineinander, als wären die gefilmten Bilder nach dem imaginären Drehbuch des Toten entstanden: Hamburger Hafen, Kölner Dom, Lederbar – alles sind Plätze, an die die Erzählung anknüpft. „Statt von Bildern der Vergangenheit könnte man eher von vergehenden Bildern oder Bildern der Vergänglichkeit sprechen“, heißt es dazu im Essay von Roland Balczuweit, der in „Normalsatz“, einem Sammelband über die Emigholz-Filme, gerade im Martin Schmitz Verlag erschienen ist.

Diese Vergänglichkeit findet sich auch in einer Reihe von Filmen wieder, die sich mit Architektur beschäftigen. Stumm hat Emigholz „Maillarts Brücken“ oder „Sullivans Banken“ zwischen 1993 und 1999 dokumentiert. Doch bei aller Funktionalität der Gebäude und Bauwerke ordnen die Bilder immer wieder nur Details neu an: ein Giebelornament, ein schräg nach oben gerichteter Blick aufs Winkeleck in der Bank von Iowa, die dünnen Betonpfeiler, auf denen eine Straße zwei Berge verbindet. Indem Emigholz genau, beinahe pedantisch auf die unscheinbaren Elemente der Gestaltung achtet, fügen sich die einzelnen Bilder für den Zuschauer im Kopf zu einem Raumkörper zusammen. Dann staunt man, mit welcher Leichtigkeit etwa die Summe aller verbauten Backsteine eine rot schillernde Oberfläche ergibt.

Das Phänomen der Addition von Farben war für die Maler des Pointilismus wichtig, um die Lebendigkeit der Dinge und des Lichts physisch greifbar zu machen. Bei Emigholz überträgt sich dieser Pointilismus auf die Zeiterfahrung des Betrachters. Zusehen, wie etwas entsteht und vergeht, das ist die Bewegung der Bilder, der man im Kino folgen kann. Auch deshalb ist die angepeilte Spanne von 680 weiteren Filmminuten nur ein kurzer Augenblick im Vergleich zur Wirklichkeit. HARALD FRICKE

Bis 4. 2. im Kino Arsenal am Potsdamer Platz, Tiergarten