Das Loch in der Mauer

In Nikosia ist es eine hochpolitische Frage, wer die historische Stadtbefestigung retten darf

aus Nikosia KLAUS HILLENBRAND

Es geschah an einem Freitag im Dezember. Heftige Regenfälle waren über Zyperns Hauptstadt Nikosia niedergegangen, das Wasser war zwischen die Ritzen der dicken Quadersteine der Stadtmauer gelaufen und hatte sich dort festgesetzt. Die Mauer am Paphos-Tor begann zu bröckeln. Dann fielen die Steine aus venezianischer Zeit unter großem Gepolter herunter und ließen das Erdreich dahinter sichtbar werden. Weitere Flächen drohen zu fallen, aber wirklich passiert ist seit Dezember nichts.

„Es ist eine Schande.“ Marina Ieronymidou, für mittelalterliche Monumente zuständige Archäologin der zypriotischen Altertumsverwaltung, sitzt in ihrem kleinen Büro im Zypern-Museum und regt sich auf. „Es wird immer mehr zerstört werden, die ganze Mauer könnte zusammenfallen. Und wir wissen nicht, wie es weitergehen soll.“ Nun ist es nicht so, dass die Archäologin untätig sein wollte. Nur zu gerne schickte Marina Ieronymidou noch heute Arbeiter zum Paphos-Tor. Auch mangelt es nicht an Geld: Die Vereinten Nationen sind gerne bereit, für die Reparatur des Lochs in der Mauer einige tausend Zypern-Pfund zur Verfügung zu stellen.

Und trotzdem geschieht nichts. Denn hier handelt es sich nicht einfach um einige alte Steine, die der Regen heruntergespült hat. Vielmehr geht es hier um eine hochpolitische Angelegenheit.

Vom Büro der zyperngriechischen Archäologin bis zum Paphos-Tor sind es nur ein paar hundert Schritte. Da liegen die Quadersteine auf einem großen Haufen, herausgelöst aus einer der elf herzförmigen Bastionen, die der Venezianer Ascanio Savorgnano von 1567 an als „ideale Stadtbefestigung“ gegen die drohende Invasion durch die Osmanen errichten ließ – vergeblich, denn Anno 1570 gelang den Türken die Eroberung der Stadt im Sturm.

Die UN-Friedenstruppen haben ein Stückchen Land unter der zerfallenden Bastion mit roten Plastikbändern abgesperrt. Dicht daneben, schon innerhalb der Altstadt, steht das „Kafenion Spitfire“ und lädt nun gar nicht zum Verweilen ein. Zwar sind die Fenstergitter geöffnet, doch dahinter stapeln sich Sandsäcke, unterbrochen durch hölzerne Schießscharten. Das zweigeschossige Haus steht kurz vor dem Zusammenbruch. Das nächste Grundstück: leere Benzintonnen, Sandsäcke. Die Paphos-Straße, die von hier ins Zentrum der Altstadt führt, ist mit Stacheldraht abgesperrt und vom Gras überwuchert. Auf der anderen Seite, dem Dach eines fensterlosen und ausgeräumten Ladens, der immer noch „handgemachte Töpferwaren“ annonciert, wacht der UN-Posten 65 über der bizarren Szenerie.

Eiscreme hinter Stacheldraht

Die Gegend um das Paphos-Tor ist entmilitarisierte UN-Pufferzone zwischen der griechischen Republik Zypern und dem türkischen Teil der Insel. Blaue Schilder verbieten auf Englisch und Griechisch das Filmen und Fotografieren. Oberhalb der Stadtmauer ist ein Zaun mit doppelter Stacheldrahtreihe. Dort sitzen türkische Zyprioten in Plastikstühlen, essen Eis und gucken herunter auf griechische Passanten. Die Eisesser befinden sich zweifellos auf türkischem Gebiet. Die Orangenbäume am Fuß der Mauer zählen zur Pufferzone, der Andenkenladen mit dem UN-Posten oben drauf sowieso. Wem aber gehören das „Kafenion Spitfire“ und die Stadtmauer?

„Das zählt ganz zweifellos zur UN-Pufferzone“, sagt Michalis Papapetrou, Regierungssprecher der Republik Zypern und in dieser Funktion mit der heiklen Angelegenheit betraut. „Das ist Pufferzone“, bestätigt auch der Sprecher der UN-Friedenstruppen Brian Kelly und meint, es sollte doch möglich sein, für dieses „historische Stück Architektur“ einen Lösung zu finden.

Die Archäologin Marina Ieronymidou erzählt, wie es los ging an jenem Dezembertag: „Am Freitag fielen die Steine herunter. Schon am Montag sprach ich mit einem UN-Offizier. Und am Dienstag begannen die Reparaturarbeiten.“ Aber das ist jetzt schon über einen Monat her. Die Arbeitsbühne an der Mauer steht ungenutzt herum, Holz stützt provisorisch die Steine links und rechts der Wunde. Am Donnerstag, dem 13. Dezember letzten Jahres, mussten die Arbeiter abziehen. Seitdem hat es in Nikosia noch oft geregnet. „Die benachbarten Sektionen der Mauer drohen jederzeit einzufallen“, unterstreicht die Sorbonne-Absolventin Ieronymidou die Dringlichkeit der Angelegenheit. Doch nichts geschieht.

Ein Teil des Lochs für jede Seite

Denn dass allein griechische Arbeiter das Loch in der Mauer abdichten sollten, ging den zyperntürkischen Behörden entschieden zu weit. Die UN-Truppe drechselte darauf einen kunstvollen Kompromiss, wie er nur im geteilten Zypern denkbar ist. Der obere, näher zum zyperntürkischen Gebiet gelegene Teil des Lochs sollte von türkischen Arbeitern repariert werden, das untere Stück, angrenzend an die Republik Zypern, von den Griechen. Überwachen würde das Ganze die UN-Friedenstruppe, finanziert durch die Vereinten Nationen. Ein wunderbarer Plan. Aber er funktionierte nicht.

Nun sind die griechischen Zyprioten auf vage Vermutungen angewiesen. „Ich habe keine Ahnung, was da mit den Türken los ist“, sagt Sophoklis Hadjisavvas. Der Direktor der Antikenverwaltung vermutet, die Sache könnte mit militärischen Arbeiten zu tun haben, die vor Jahren oberhalb der Mauerbastion vorgenommen worden sind. Angeblich entstand dort damals ein Kindergarten. Nur ist es seltsam, dass man, wenn man versucht, vom türkischen Sektor des geteilten Nikosia durch die engen Gassen diesen Kindergarten zu erreichen, schnell auf unüberwindliches militärisches Sperrgebiet stößt. Ein Kindergarten als Trojanisches Pferd?

Auch auf zyperntürkischer Seite, in der international nicht anerkannten „Türkischen Republik Nordzypern“, gibt es eine Antikenverwaltung. Dort mag sich ihre Leiterin Ilkay Feridun zu der heiklen Angelegenheit überhaupt nicht äußern: „Das ist eine politische Frage.“ Und zur Beantwortung einer solchen benötigt sie eine Genehmigung des zuständigen Ministers.

Für Marina Ieronymidou ist Ilkay Feridun unendlich weit weg. Eigentlich ist die Pflege der Altstadtmauern ein gemeinsames Projekt in beiden Städten, organisiert von den Vereinten Nationen. Doch in all den Jahren seit 1979, als die Arbeiten an den brüchigen Mauern begannen, hat Ieronymidou ihre Kollegen von der anderen Seite nur ein einziges Mal sehen dürfen, und das war in der UN-Pufferzone. „Ich habe keine Ahnung, wie die Mauer drüben aussieht“, bekennt sie. „Sie arbeiten auch. Aber wir wissen nichts Genaues.“ Der Checkpoint Ledra Palace an der Demarkationslinie in Nikosia, nur wenige hundert Meter vom Paphos-Tor entfernt, bleibt für griechische Zyprioten prinzipiell geschlossen. Hat sie Kontakt mit der Antikenverwaltung Nordzyperns? „Nein, mit der so genannten Antikenverwaltung im Norden bestehen keinerlei Verbindungen.“

„So genannt“? Nach zyperngriechischer Auffassung ist in Nordzypern alles „so genannt“. Da gibt es ein so genanntes Parlament, einen so genannten Rundfunksender namens Bayrak und so genannte Briefmarken. Die auf der Insel einzig anerkannte Republik Zypern wacht genauestens, dass das „illegale Regime“ im Norden, entstanden nach der Besetzung durch türkische Truppen vor fast 28 Jahren, nicht ein Zipfelchen an Anerkennung erhält. Also auch keine Antikenverwaltung. Nur eine so genannte.

Der zyperngriechische Regierungssprecher Papapetrou macht deutlich, was das Völkerrecht mit dem Loch in der Mauer zu tun hat: „Die so genannte Regierung der Zyperntürken versucht durch die Restaurierung der Altstadtmauern eine indirekte Anerkennung zu gewinnen.“ Gegen zyperntürkische Arbeiter am Paphos-Tor hat Papapetrou nichts einzuwenden. Wohl aber dagegen, dass sich zyperntürkische „Offizielle“ in die Staatsaffäre Mauerloch einmischen. Und genau das sei geschehen. Denn natürlich versucht die türkische Seite jede Gelegenheit zu nutzen, um der ersehnten Anerkennung auch nur ein winziges Stückchen näher zu kommen – wohl wissend, dass das wiederum auf den Protest der griechischen Seite stößt.

Ein vergesslicher Bürgermeister

Der Bürgermeister Griechisch-Nikosias, Michalakis Zambelas, will sich dabei nicht einmischen: „Das ist eine politische Frage“, antwortet der grauhaarige Mann. „Ich halte mich deshalb ein wenig zurück und warte, was die Regierung und die UN bei den Gesprächen erreichen.“ Zambelas Dienstgebäude befindet sich just auf der Stadtmauer, vielleicht fünfhundert Meter vom Paphos-Tor entfernt. „Die Mauern sind Teil unserer Geschichte, und niemand hat das Recht, sie einstürzen zu lassen“, erklärt er bestimmt. Allerdings hat er den Namen seines zyperntürkischen Bürgermeisterkollegen vergessen, zur Antikenverwaltung im Norden bestehen keine Kontakte.

Links des Paphos-Tores wehen zwei Flaggen, die rote der Türkei und die weiß-rote des türkisch besetzten Nordzyperns. Rechts, auf dem Tor, flattern auf einem Armeestützpunkt die Symbole der Republik Zypern, ein Relief der Insel umkränzt mit Friedenszweigen, und das griechische Andreaskreuz. Darunter fällt die Altstadtmauer zusammen. „Das ist ziemlich absurd“, gibt Regierungssprecher Papapetrou zu. Und Marina Ieronymidou verzweifelt langsam, aber sicher: „Es muss schnell etwas passieren, egal was.“ UN-Sprecher Brian Kelly vermittelt Hoffnung: „Es geht darum, dass beide Seiten bei der Restaurierung zusammenarbeiten. Wir arbeiten weiter an einer Vereinbarung. Ich melde mich, wenn es Neuigkeiten gibt.“

Anders geht es schneller. Wenn sich an diesem Mittwoch Zyperns Präsident Glavcos Clerides und sein zyperntürkischer Gegenspieler zum Beginn von Verhandlungen über die Zukunft der Insel treffen, verzichten beide um der Sache willen auf ihre Titel. Clerides und Denktasch sind einfach nur Vertreter der griechischen oder türkischen Zyprioten. Beide Seiten sind optimistisch, bis zum Juni zu einer umfassenden Einigung zu kommen. Aber bis diese unkomplizierte Sichtweise auch bei den Alltagsproblemen angewandt würde, wird es wohl noch eine ganze Weile dauern.

Über das Loch in der Mauer am Paphos-Tor im geteilten Nikosia werden Clerides und Denktasch wohl nicht sprechen.