Was Herr Faust in der Kneipe so trank

Ungarns Schüler lesen ihren Goethe noch! Oder warum sich die Magyaren über die miserablen Pisa-Ergebnisse ihrer 15-Jährigen gar nicht aufregen

Die ungarischen Schüler sind im Pisa-Test durchgefallen. Bloß scheint das im Land keinen zu kümmern. Die großen Tageszeitungen berichteten ausführlich über die deutsche Bildungsmisere – und vergaßen dabei das genauso miserable Ergebnis der 15-jährigen Ungarn zu veröffentlichen. Im Bereich Lesevermögen kränkeln die Schüler hinter den Deutschen auf Platz 23, in Mathematik belegen sie Platz 21. Allein im Bereich der Naturwissenschaften kommen die ungarischen Schüler auf Rang 15 – vor den Deutschen.

Die Gleichgültigkeit der Betroffenen in Ungarn hat tiefe Gründe. Nach der Wende wurden fast alle Bereiche des Lebens neu organisiert. Allein das Schulwesen durfte nach kommunistischem Muster weitergeführt werden. Aus den Schulbüchern des Faches Geschichte wurden zwar die überdimensionalen Kapitel über Arbeiterbewegungen gestrichen. Von Marx blieben ungefähr zehn klein gedruckte Zeilen. Die Pariser Kommune oder die Räterepublik in München verschwanden wieder aus dem Lehrbuch der Gymnasiasten. Sie machten Absätzen über die katholische Kirche Platz.

Auch im Literaturlehrplan wurde einiges verändert: So wurden die kommunistischen Schriftsteller ausradiert, bei der Beurteilung von Brecht die Frage nach seinem sozialistischen Engagement gestrichen und einige Dichter mit bis dahin verbotenen nationalistischen Gefühlen wieder aufgenommen.

Die Ideologie in den Schulbüchern wurde ausgetauscht, aber die Ideologie des Schulsystems nicht. Das Credo der ungarischen Schulen lautet: auswendig lernen. Der knappe Lehrplan ermöglicht keine lange Diskussionen. Die 15-Jährigen, die bei Pisa jetzt durchgefallen sind, müssen größere Werke von Dante, Shakespeare, Moliere und Schiller lesen – binnen eines Jahres. Ungarische Dichter und Schriftsteller sind mangels Platz und Bekanntheit gar nicht erst aufgezählt.

Im Grundfach Literatur ist Goethes Faust in Ungarn Pflicht. Ich kann mich noch sehr gut an den Test erinnern, den wir über die Lektüre schreiben mussten: Welchen Wein trank Faust in der Leipziger Szene? Wie beurteilt das Schulbuch Goethes bekanntesten Werk? Es wird also überprüft, ob der Text wirklich gelesen wurde – und ob die Schüler die Erörterung eines Professoren zum Stück auswendig gelernt haben. Eigene Gedanken zum Text wurden nicht verlangt.

Die Überheblichkeit des Wissens ist in Ungarn allgegenwärtig: Die Wessis wissen nichts und leben doch besser. Die Ungarn müssen also büffeln, um die tief verwurzelte Frustration zu spüren, die sie fürs Überleben brauchen. Sie klammern sich an Faust, obwohl sie davon nichts verstanden haben. Die Pisa-Studie ist im Land gar nicht interessant – denn einen internationalen Test über das „wichtige“ Wissen, so meint man, würden die Ungarn ja haushoch gewinnen. Wer weiß schon, was der Liebe Herr Faust in der Kneipe so trank? Für das kleine Land ist der Pisa-Test nur ein Unternehmen der Wessis, um ihre eigene Dummheit zu verbergen. Dabei ist jetzt klar: Die Ungarn können zwar ein paar auswendig gelernte Texte aufsagen, aber selbst lesen oder sogar schreiben können sie nicht (richtig). Nur noch mit den Wörtern Coca-Cola, Hamburger und Titanic können sie was anfangen, aber mit einem Gedicht nichts mehr.

Die LehrerInnen erheben einfach ihre Hände. Was sollten sie auch machen? Sie studierten nichts anderes, eine regelmäßige Weiterbildung gibt es nicht – wie in Deutschland. Das Geld, das die LehrerInnen nach zwanzigjährigem Dienst verdienen, kann ein Jugendlicher ohne Abitur bei McDonald’s locker überbieten. Und die neuen Junkies der multinationalen Konzerne verdienen im Schnitt das Zehnfache. Der Staat ist machtlos. Geld gibt es nur für die Multis, nur mit ihren Steuern kann es irgendwann besser werden.

Das Land wird in den kommenden Jahren schmerzhaft erfahren müssen, was wirklich für ein erfolgreiches Leben erforderlich ist. Auf zwei Beinen wandelnde Lexika kommen nicht sehr weit. GERGELY MÁRTON