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tellerrandDas Wirtshaus Moorlake, erbaut 1842

Allein unter Greisen

Irgendwann wird dem Städter der Spaziergang am Wannsee dann doch zu lang, er hat genug gesehen von den Bäumen und dem See. Sofort meldet sich der Magen, der Wanderer verspürt Durst und Hunger, und schon erblickt er einen Jägerzaun. Dahinter liegt idyllisch ein Fachwerkhaus mit alpenländisch geranienverziertem Rundumbalkon und einem Hirschgeweih unter dem Dachfirst. In der warmen Stube begrüßt den Wanderer ein ausgestopfter Wildschweinrüssel, und ein Rehbock schaut verträumt aus einem goldverzierten Gemälde.

Auch auf der Speisekarte steht ein Hirsch, mit Spätzle und Salat für 28 Mark. Doch das im Berliner Umland weit verbreitete Wildschwein fehlt gänzlich auf der Speisekarte. Stattdessen präsentiert man Sauerbraten und Eisbein, aber auch ein Touch moderner Küche ist in Form von 2 Pfannkuchen mit Spinat in den Berliner Forst vorgedrungen.

Spätestens, wenn der Kellner das Wort an die Gäste richtet, ist auch dem Fremdesten klar, dass er sich noch mitten in Berlin befindet. „Sie haben schon gewählt?“, fragt der Kellner und sieht dabei aus dem Fenster zum See hinaus. „Noch nicht ganz, aber wenn ich schon ein Bier …“ – doch da ist der Vielbeschäftigte schon wieder verschwunden. Eine Viertelstunde später hebt der Gast vorsichtig den Finger, der Ober nickt vom andern Ende des Saales. Wer nun die Gebärdensprache der Berliner Kellner versteht, weiß, was dieses Nicken zu bedeuten hat: „Ach, und jetzt der noch!“ Der Kellner tritt an den Tisch und zieht den Block aus der Tasche. „Einen Schweinebraten und Bier“, sagt der Gast. Es ist nur ein winziges Zucken im Mundwinkel des Kellners, aber es ist unmissverständlich: „Und dafür haben Sie so lange gebraucht!“

Der Braten ist in vier 7 Millimeter dünne Scheiben geschnitten, die akkurat drapiert etwa den halben Platz des Tellers in Anspruch nehmen. Der Gast sticht zu, und während er kaut, belauscht er das Gespräch am Nebentisch. Es ist der Monolog einer alten Dame, die man aus Platzmangel an den Tisch mit zwei jüngeren Damen gesetzt hat. „Mein Vater war ja der beste Freund von Stresemann … Sagen Sie, wie spät ist es jetzt? … Ich kenne die jungen Leute kaum noch, die bei uns einziehen und ausziehen. Wissen Sie, die Miete ist ja ziemlich hoch … – Ich frage mich immer, wo die Leute das Geld herhaben, drei Gänge und ein Glas Sekt für hundert Mark. Am Schluss esse ich immer ein Vanilleeis. Wie spät ist es jetzt. Ich muss ja zehn Minuten früher weg, ich kann nicht mehr so schnell laufen seit dem Unfall.“

Der Gast am Nebentisch hat gerade die letzten Bissen verschlungen, als die jungen Frauen sich verabschieden. Schlagartig wird ihm klar, dass er nun allein unter Greisen ist: Uralten Damen mit kleinen Hütchen über der kahlen Stelle im weißen Haar. Feinen Damen mit Handtäschchen und Schnupftüchern, die beständig auf ihre schwerhörigen Männer einreden.

Der Gast möchte lieber gehen. Da dreht sich die Dame am Nebentisch um. „Sagen Sie, junger Mann, wie spät ist es jetzt.“ Es ist fünf Minuten vor zwölf. „Oh, da muss ich aber gehen. Wissen Sie, ich kann nicht mehr so schnell seit … Könnten Sie mir in den Mantel helfen.“ Der Mantel wiegt schätzungsweise fünfzig Kilo, ein halber Eisbär. „Sie brauchen mich nur bis zur Haltestelle zu bringen.“ Der Wanderer betrachtet stirnrunzelnd die hohen Absätze der schwarzen Lackschuhe, die der gewaltigen Last des Mantels und der Dame allmählich nachgegeben. Der Gast zieht sein Portemonnaie aus der Tasche und analysiert die Rechnung: „Historisches Wirtshaus Moorlake. Erbaut 1842. Es bediente Sie Extra 3 Tag.“

HANS W. KORFMANN

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