: Paradoxien des Alltags
Wie veränderlich ist das Verhalten einer Rassistin: Mehdi Charefs Marie-Line über die Leiterin einer Putzkolonne mit illegalen Arbeiterinnen ■ Von Christiane Müller-Lobeck
Es geht dem Feierabend entgegen. Und Feierabend heißt hier früher Morgen. Marie-Line treibt die Frauen ihrer Putzkolonne an, harsch, herrisch und übereifrig. Nicht zum Aushalten, denkt man noch, und schon wirft eine der Frauen das Handtuch: Sie kündigt. Doch ist das eine Lösung?
Mehdi Charef, hierzulande bekannt geworden mit Tee im Harem des Archimedes, entwirft gleich zu Beginn seines jüngsten Films Marie-Line das ganze Drama ungesicherter Arbeitsverhältnisse. Die Frauen, die dort jede Nacht den Supermarkt auf Hochglanz bringen, sind größtenteils illegale Einwanderinnen in Frankreich, bedroht von amtlichen Betriebskontrollen, eine Alternative zu dieser Knochenarbeit haben sie kaum. Und von der Würde, die eine von ihnen durch die Kündigung zurück zu erkämpfen versuchte, wird sie nicht leben können. Bedrücktes Schweigen bestimmt die Heimfahrt im Minivan in dieser Nacht.
Anders als Ken Loach in Bread and Roses stellt Charef nicht eine der Illegalen ins Zentrum seines Films, sondern deren Vorarbeiterin, die Schinderin Marie-Line. Wir sehen sie nach Hause kommen, gerade stehen ihr Mann und ihre Tochter auf, um zur Arbeit zu gehen, man grummelt sich an, zurück bleibt ein Baby, das Kind ihrer Tochter, um das sich Marie-Line nun zu kümmern hat. Und weiter gehts, bald beginnt die nächste Schicht. Schon steht Ersatz für den Verlust der letzten Nacht da, eine junge Frau, die lieber die Bücher in der Auslage studiert, als sich des Staubs um sie herum anzunehmen. Eine andere hat ihren Mann und zwei Kinder mitgebracht. Die Polizei ist hinter ihnen her. Ob sie sich im Umkleideraum verstecken könnten? Doch Marie-Line bleibt hart. Der Supervisor lässt sie zu sich rufen, lobt ihre Führungsqualitäten. Einen blasen soll sie ihm auch noch, wie früher. Schließlich habe sie ihm und dem Front National den Job zu verdanken. Spätes-tens jetzt hat Marie-Line genug. Und sie beginnt, ihr Leben zu überdenken.
Neben dem Sujet teilt Charef mit Loach auch die filmischen Mittel: eine schnörkellose Erzählweise, in der die Guten nie ungebrochen gut, die Bösen bisweilen um so holzschnittartiger böse sind. Eine Kameraführung, die zwischen Nähe und Distanz zu den Figuren geschickt die Waage hält, die auch Nebenfiguren aufmerksam ansieht, und die den Orten, zwischen denen sie sich bewegen, nichts Dramatisierendes aufbürdet.
Und doch hat Charef den Akzent entscheidend anders gesetzt. Nicht nur, dass er seinen Figuren bei stummer Körpersprache zusieht, wo Loach viele Worte machen lässt. Nicht nur, dass Loach Konflikte lieber zwischen zweien von ihnen ansiedelt, als sie an eine von ihnen zu heften und damit bis zur Verzweiflung hadern zu lassen, wie Charef seine Marie-Line. Ken Loach hat mit Bread and Roses einfach seinen jahrelangen Blick auf die Arbeiterklasse ausgedeht auf die Verdammten dieser Erde und um sie herum ein Lehrstück zu Selbstorganisierung und Gewerkschaften inszeniert. Charef dagegen hat seinen – freilich viel jüngeren – Blick auf die Verdammten ausgedehnt auf eine Frau des französischen White Trash, noch dazu eine, die Mitglied im Front National ist. Und an ihr hat er ausprobiert, wie veränderlich das auf den eigenen ökonomischen Vorteil bedachte Alltagsverhalten einer radikalen Rassistin wohl sein könnte.
Das ist schwer auszuhalten. Gelungen ist diese Tour de force durch die Härten und Nöte der Hauptfigur vor allem durch ihre Darstellerin Muriel Robin. Ihr gelingt es aufs Genauste, Marie-Line zu der schillernden Figur zu machen, die Charef für seine Geschichte haben wollte. Und was auf den ersten Blick nach einem moralischen Lehrstück für mehr Toleranz aussieht, entpuppt sich dank Muriel Robins differenzierter Spielweise als eine sehr kluge Zustandsbeschreibung der französischen Einwanderungsgesellschaft. Denn nicht ihr Gewissen oder das Zureden anderer treibt Marie-Line zu immer mehr Solidarität mit ihren Arbeiterinnen. Es sind die Verhältnisse selbst.
Marie-Lines Grundkonflikt ist, dass sie – gerade weil sie so sehr auf ihren ökonomischen Vorteil bedacht ist – gezwungen ist, denen zu helfen, die sie doch eigentlich hasst. Sie kann, will sie ihren Job behalten, genau so wenig wie der Front National, dem die Putzfirma gehört, auf die Arbeit der Sans Papiers verzichten. Die Paradoxien der modernen Ultrarechten laufen direkt durch ihr Leben, ihren Alltag hindurch. Es versteht sich von selbst, dass sie darin einigen Entscheidungsfreiraum hat. Marie-Line nutzt ihn, ohne dass es ein Happy End geben könnte. Und Mehdi Charef hat diese Situation mit einer großen Portion Galgenhumor inszeniert.
Do + So, 19 Uhr, Fr, Mo + Mi, 21.15, Sa, 19.15 Uhr, Di, 17 Uhr, Metropolis; weitere Termine am 31.1. und im Februar
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