„Wie ich den Vulkanausbruch erlebte“

Ein Intellektueller aus Goma berichtet, wie die Zerstörung über die Stadt kam – und wie die per Rundfunk verbreitete offizielle Sorglosigkeit das Leid vergrößerte – ein weiteres Beispiel für die unselige Macht des Radios im Afrika der Großen Seen

aus Goma ONESPHORE SEMATUMBA

Der 17. Januar ist Feiertag in der Demokratischen Republik Kongo. Die gesamte Bevölkerung ist aufgerufen, über das Heldentum des ersten kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba nachzudenken, der am 17. Januar 1961 ermordet wurde. Aber in Goma währt das Nachdenken diesmal nicht lange.

Schon gegen neun Uhr früh hatte ein Lavastrom aus dem Vulkan Niyragongo das Dorf Kanyarucinya verschluckt. Aus Goma sieht man einen schwarzen Rauchpilz im Himmel, und die ersten Obdachlosen kommen in die Stadtviertel Majengo und Virunga. Panik herrscht allerdings nicht. Abgesehen von 1977 spuckt der Nyiragongo seine Lava immer in die von Goma abgewandte Richtung, nach Nordwesten in den Virunga-Nationalpark. Goma denkt, es sei unter himmlischem Schutz.

Leider scheint am 17. Januar 2002 der Himmel andere Sorgen zu haben. Und leider auch der offizielle Radiosender RTNC, „La Voix du Peuple“ (Stimme des Volkes), dessen Sendungen in Goma Monopolcharakter haben.

Bis zum Nachmittag ist die Botschaft der Radiojournalisten an die Bevölkerung klar: Bleibt ruhig, Leute, denn „Gott ist auf unserer Seite“. Nur die Einwohner der nördlichsten Viertel Majengo und Virunga sind aufgerufen, Richtung Süden ins Stadtzentrum zu gehen. Und ein paar Stunden später ruft das Radio sie sogar auf, wieder umzukehren. „Die Lage ist unter Kontrolle“, meldet RTNC.

Azarias Ruberwa, Generalsekretär der RCD (die im Osten des Kongo herrschende Rebellenbewegung „Kongolesische Sammlung für Demokratie“, d.Red.) gibt zwar im Radio zu, dass Vulkanausbrüche nie unter menschlicher Kontrolle sind, höchstens unter göttlicher. Aber Azarias Ruberwa ist ja auch ein Pfarrer. Die Bewohner der nördlichen Viertel gehen also wieder nach Hause. Und da sehen sie, dass ihre Häuser tatsächlich unter Kontrolle sind – unter der des Vulkans.

Die RTNC spielt unterdessen wunderschöne kongolesische Musik. Ein lokaler Journalist sagt, er könne nicht lügen, er habe schließlich auch Familie in Goma. Das beruhigt die Hörer. Nur wundern sie sich, warum immer mehr Obdachlose ins Stadtzentrum laufen und weniger beruhigende Dinge erzählen.

Es dauert bis 18 Uhr, bis der Sender plötzlich die gesamte Stadtbevölkerung aufruft, Goma zu verlassen. Da haben sich angesichts der immer näher rückenden Lava schon 250.000 Menschen von selber über die Grenze nach Ruanda aufgemacht, mit wenig Gepäck und viel Wut. Sie schwören: Noch mehr Märchen lassen wir uns nicht erzählen.

Am Samstag, 19. Januar 2002 ruft RTNC die nach Ruanda geflohene Bevölkerung Gomas dazu auf, in Ruanda zu bleiben, bis die Lage „unter Kontrolle“ ist. Die Hörer hören aber nicht darauf, sondern nur auf ihren Hunger und Müdigkeit. Sie gehen zurück nach Goma, in eine noch dampfende und brennende Stadt. Der einzige Weg durch das von Lava bedeckte Stadtzentrum ist die sogenannte „Joel-Brücke“, ein Pfad in den Spuren jenes etwas angetrunkenen Menschen, der bei der Rückkehr als Erster im Zustand der Sorglosigkeit durch die Lavamasse spazierte. Heute fahren hier Autos.

Man kann die Rolle von Radiosendern im Afrika der Großen Seen nicht genug kritisieren. In Ruanda gelangte 1994 der Sender RTLM (Radio des Mille Collines) durch seine Aufrufe zum Massenmord an den Tutsi zu finsterem Ruhm. Gegen Ende des Völkermords rief er die Hutu-Bewohner Kigalis zum „Widerstand“ gegen die vorrückende Tutsi-Guerilla auf, denn „eure Sache ist ehrenvoll und Gott ist auf eurer Seite“. RTLM selbst war da schon geflohen. Auch die Leute in Goma kennen ihren Radiosender. 1996, zu Beginn der Rebellion von Laurent-Désiré Kabila, als Kongo noch Zaire hieß und RTNC noch „Radio Star“, erzählte der Sender den Leuten, „alles ist unter Kontrolle der ruhmreichen zairischen Armee“. Tatsächlich war die zairische Armee da schon aus Goma geflohen, an ihrer Spitze Provinzgouverneur General Ngwala. Bevor er ging, hatte er eine Siegesbotschaft aufgezeichnet, in der er rief: „Gott ist auf unserer Seite“. Der Sender strahlte das jede halbe Stunde aus. Das spornte zahlreiche junge Männer zum Kampf an – sie liefen in die Kugeln des Gegners.

Heute konzentrieren sich die internationalen Medien in Goma auf die Naturkatastrophe und ignorieren den menschlichen und historischen Aspekt. Die Bevölkerung darf sich nicht infantilisieren lassen. Sie muss lernen, dass Medien wie Drogen sind, nur in Maßen zu genießen. Sonst werden in dieser Region die Medien weiterhin mehr Menschen töten als die Vulkane.