500 Euro für jeden Toten

Jahrelang sollen Sanitäter und Notfallärzte im polnischen Lodz Todkranke nicht behandelt oder getötet haben. Die Leichen wurden verkauft. Staatsanwalt ermittelt

KRAKAU taz ■ Die Anschuldigungen sind ungeheuerlich und erschüttern die Menschen überall in Polen: Systematisch überließen Sanitäter und Notfallärzte in Lodz schwer verletzte und todkranke Menschen ihrem Schicksal. In einigen Fällen leisteten sie sogar aktive Sterbehilfe, um ihre Patienten schneller ins Jenseits zu befördern. Die Leichen verkauften sie dann gegen Provision an ein Bestattungsunternehmen und verdienten dabei um die 500 Euro pro Fall. Zehn Jahre war dies tägliche Praxis in der größten Notfallklinik der Stadt. Das zumindest behaupten ehemalige Mitarbeiter der Krankenstation und ihre Aussagen scheinen sich mit Indizien zu decken, die nun aus Kreisen der örtlichen Polizei und Staatsanwaltschaft der Presse zugespielt wurden.

Seit Mittwoch kennen die Fernsehstationen kein anderes Thema als „Die Kopfjäger von Lodz“. Da berichtet etwa Totengräber Włodzimierz Sumera im Ersten Programm von TV Polonia, eines Tages habe er mit ansehen müssen, wie ein Notfallwagen mit einem Sterbenden direkt bei der Leichenhalle vorgefahren sei. Dort habe der Rettungsarzt den Totenschein ausgefüllt, während sein Patient noch im Sterben lag. Als ein Sanitäter den Arzt darauf hingewiesen habe, den Puls noch zu fühlen, habe dieser gesagt: „Der Kerl soll endlich verrecken.“

Dieser Vorgang war kein Einzelfall. „Je mehr Leichen, umso mehr Provision“, habe die Devise gelautet, erzählt ein anderer Insider, deshalb habe man „nachgeholfen, wo es nur ging“. Manch einem Schwerverletzten wurde ein tödliches Mittel verabreicht, nicht selten eine Überdosis des Narkosemedikamentes Pavulon.

Fassungslos reagieren viele Polen auf die Enthüllungen. Viele wollen nicht wahrhaben, was sich in Lodz abgespielt haben soll, selbst nicht die politische Elite. „Wenn das wahr sein sollte, ist das kein Verbrechen, sondern eine Entartung, ein Bruch mit allen ethischen und menschlichen Prinzipien“, erklärte Präsident Aleksander Kwaśniewski.

Aufgedeckt wurde das mutmaßliche Verbrechen nur durch den Mut des neuen Direktors des Lodzer Notfalldienstes, Bogusław Tyka. Der Stadtrat hatte den Wirtschaftswissenschaftler im vergangenen Herbst zum neuen Leiter der Krankenstation ernannt und ihm den Auftrag erteilt, die Ausgaben der Klinik drastisch zu senken. Bei der Überprüfung von Quittungen und Honoraren stieß Tyka auf Ungereimtheiten. Ihm war aufgefallen, dass große Mengen Pavulon eingekauft worden waren, aber bei der Behandlung nicht mehr auftauchten. Auch blieb Tyka die rege Zusammenarbeit mit stets dem gleichen Bestattungsunternehmen nicht verborgen. Als ihm Angehörige von Verstorbenen und Mitarbeiter noch einige dubiose Geschichten zuflüsterten, handelte er.

Handeln wollen auch die Staatsanwaltschaft, das Innenministerium und die Regierung. Eine Sonderkommission soll die „Vorgänge von Lodz vollständig aufklären“. Die Staatsanwaltschaft kündigte an, alle Kliniken unter die Lupe zu nehmen. „Alle Kliniken“, erklärte Gesundheitsminister Mariusz Łapiński, „schonungslose Aufklärung muss es geben, das gebietet der Respekt vor unseren Toten.“

ROLAND HOFWILER