Das langsame Ende im Reagenzglas

Das Naturkundemuseum zeigte einen kruden Kurzfilm über Lurche und die heimliche Lust am Konservierungsalkohol

Rechts ragt ein Brachiosaurus in die Höhe, der größte Saurier, dessen Skelett je vollständig gefunden wurde. Links knattert ein alter Zeiss-Filmprojektor aus den 40er-Jahren, der früher in der DDR benutzt wurde, um Filme in Provinzkinos zu bringen. Die Halle mit kathedralenhafter Höhe hallt wie die Stimmen im Film, der am Donnerstag hier gezeigt wurde: Das Naturkundemuseum von Berlin verwandelte sich für einen Abend in einen merkwürdigen Kinosaal.

Hier drehte Boris Hars-Tschachotin 1999 den Film „Lurch“, einen beeindruckenden Kurzfilm, der in der Präparationssammlung des Museums spielt und bereits Festivalpreise abgeräumt hat. Am Donnerstag wurde der Film an seinem Entstehungsort gezeigt. Anschließend konnte das Publikum die Sammlung, die der Öffentlichkeit sonst verschlossen ist, begehen.

Im Film, dessen Geschichte von Kafka stammen könnte, bekommt ein Arbeitsloser einen Job in einer naturwissenschaftlichen Sammlung. Er muss in den Gläsern mit Tierpräparaten den konservierenden Alkohol nachfüllen, da dieser im Laufe der Jahre verdunstet. Als ein Glas umfällt, ergießt sich Alkohol über den Einfüller. Der leckt ihn sich von seinen Lippen, und kommt auf den Geschmack. Von da an gibt sich der Mann dem Stoff hin, und begründet die „heimliche Wissenschaft“ des Konservierungsalkoholgenusses. Er testet Gemische von den Ausschwemmungen verschiedener Amphibien und Reptilien. Und wird langsam zum Alkoholiker. Doch er fühlt sich auch immer mehr in die Existenz der toten Tiere ein und setzt der steifen Wissenschaft, die hier ausschließlich von alten, ernsten Männern im Kittel repräsentiert wird, einen lustvollen Umgang mit den präparierten Lurchen und Fröschen entgegegen. Schließlich landet der Tester selbst in einem riesigen Reagenzglas – als menschliches Alkoholpräparat.

Am Donnerstag kam das Museum seinen BesucherInnen auf eine ungewohnte Weise entgegen, denn es berücksichtigte weniger den wissenschaftlichen als vielmehr den ästhetischen Zugang des Filmpublikums zu Naturkundesammlungen. Die Regalreihen mit den Reagenzgläsern erschienen endlos. Die unerwartet zahlreichen Besucher konnten ihren Fantasien über die „Kuriositätenkammern“ freien Lauf lassen. Man kann sich gut vorstellen, wie es ist, wenn man vor dem wissenschaftlich beschrieben Exemplar eines Guppys stehen bleibt und sich an das erste eigene Aquarium erinnert.

In letzter Zeit mehren sich Bemühungen und Publikationen, die der ästhetischen Lust, die wissenschaftliche Sammlungen wecken können, nachkommen. Und so geht es auch an diesem Abend darum, dass Genuss und Wissenschaft sich nicht ausschließen müssen. Das wusste schon der Mitbegründer der Fischkunde Marcus Elieser Bloch. Am Ende jeder seiner wissenschaftlichen Abhandlungen über eine Fischart beschrieb der Forscher, wie man diese am schmackhaftesten zubereitet.

VERENA SARAH DIEHL