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Lieber Wilamowitz

Noch vierzig Tage und vierzig Briefe bis zur Ewigkeit: Maria Rybakova erzählt von einer jungen Selbstmörderin in Berlin – in „Die Reise der Anna Grom“ gelangt eine 20-jährige Studentin erst nach dem Tod zur vollen Geistesgegenwart

Eine Geschichte, aus dem Jenseits heraus erzählt. Die 20-jährige Studentin Anna Grom, die nach Berlin ging in der Hoffnung, im Westen ihr Glück zu finden, hat sich erhängt. Im Affekt, aber mehr noch in der Gewissheit, nur auf diese Weise einer unerwiderten Liebe entfliehen zu können. Anna selbst bleiben nun vierzig Tage, bis sich ihre Seele von ihrem Körper befreit haben wird. In dieser Zeit schildert sie ihrem „lieben Wilamowitz“ eindringlich ihr Leben. Vierzig Briefe schreibt sie ihm. Jeden Tag einen. Sie erzählt, was sie sich ihm gegenüber nie zu sagen traute, wofür er zu Annas Lebzeiten auch nie Interesse zeigte und dessen sie sich manchmal erst jetzt, kurz nach ihrem Tod, wieder präzise entsinnen kann. Im Jenseits wird die Erinnerung zur Gegenwart.

Seinen besonderen Reiz bekommt der Roman durch den nachdenklichen und doch nüchternen Ton, in dem Maria Rybakova die Briefe verfasst hat. So berichtet Anna, wie sie, kaum in Berlin angekommen, von einer obskuren Modelagentur um ihr letztes Geld betrogen wird, danach ständig auf der Suche ist nach einer neuen Bleibe und einem neuen Job: ob als Kellnerin, Dessousverkäuferin oder Aushilfe bei einem Paketdienst. Einsam streunt sie durch das wiedervereinigte Berlin, ein autistisches und doch liebeswilliges Bündel Mensch, das sich also von einem unerotischen Abenteuer ins nächste stürzt, bis sie eines Tages dem gebildeten Adonis verfällt. Dass Wilamowitz anderes, am meisten sich selbst im Sinn hat, sieht Anna nicht.

Maria Rybakova hat einen scharfsinnigen Blick, mit dem betrachtet nun ihre junge Heldin die Charaktere und Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen aus der Erinnerung heraus. Und die Heldin ist gleichsam selbstkritisch. Da entschuldigt sich die Absenderin auch gleich zu Beginn für unkorrekte Ausdrucksweisen sowie für die unvermeidliche Langatmigkeit mancher Ausführungen. Anstrengend wird es, wenn Rybakova zu sehr ins Philosophieren gerät, wenn das romantische Pathos von der in alle Ewigkeit verlorenen großen Liebe nur noch selten von jener geistesgegenwärtigen, analytischen Klarheit der jungen Selbstmörderin durchbrochen wird. Manchmal, so scheint es dann jedenfalls, ist die Erinnerung nach dem Sterben noch schmerzvoller als der Tod.

PAMELA JAHN

Maria Rybakova: „Die Reise der Anna Grom“. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Rowohlt Berlin, Berlin 2001, 256 Seiten, 19,90 €

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