Verblühende Klänge und ihre Schatten

Tonsetzer sind Bildhauer, Töne zerfallen zu rauen, akustischen Oberflächen, und jemand schlägt einen Nagel ins Holz: Am Sonntag ist das Berliner „Ultraschall“-Festival für zeitgenössische Musik durchaus exemplarisch zu Ende gegangen

Die gute Nachricht zuerst: Neunmalklugen Müttern, die in hausbackener Selbstgewissheit verkünden, der Ton mache die Musik, darf man jetzt mit Gewissheit widersprechen. Alles macht Musik. Aber der Ton, dieses unwahrscheinliche Gemisch aus Reinheit und Emphase, hat in der Musik längst ausgedient. Man kann hauchen und flüstern, knarzen und rattern, fiepsen und brummen. Der verschulte Ton, der musikalischen Ausdruck Jahrhunderte lang zu tragen hatte, dieser Ton ist tot.

Am Sonntag ist das Berliner „Ultraschall“-Festival, ein Jointventure des DeutschlandRadios und des SFB, nach zehn Tagen mit zeitgenössischer Musik zu Ende gegangen. In Ermangelung erteilter Kompositionsaufträge und einem nicht unbeachtlichen Werkanteil vergangener Jahrzehnte gerannen die 19 Konzerte in diesem Jahr zur vielleicht ein wenig beliebigen, aber durchaus exemplarischen Retrospektive. Werke jüngeren Datums wurden regelmäßig von Klassikern umrahmt, von musikgeschichtlichen Initialzündungen wie György Ligetis waberndes Orchesterstück „Atmosphères“ (1961), Helmut Lachenmanns desolate Streicherserenade „Klangschatten“ (1972) oder Wolfgang Rihms wild gehemmter Schubertiade „Klavierstück Nr. 7“ (1980).

„Ultraschall“ gab also Anlass zu weitläufigem Räsonnieren und zum Nachbereiten des gängigen Repertoires. Tatsächlich ließ sich der Verzicht auf den klassischen Ton als deutlichste Konstante gegenwärtigen Komponierens erkennen. Tonsetzer sind heute Bildhauer des Klangs. Grammatik und andere sprachähnliche Konstrukte, die noch in den Fünfzigerjahren als Garant künstlerischer Aufrichtigkeit galten, sind ihnen fremd.

Sie nehme oft nur einen einzigen Ton, erklärt Rebecca Saunders, Jahrgang 1967, um dieses Relikt musikalischen Ausdrucks dann allerdings vehement zu zertrümmern. In ihren Werken, die in einem Porträtkonzert des konzentriert agierenden Ensemble Mosaik zu hören waren, zerfallen die Töne, um sich in rauen akustischen Oberflächen von beinah physischer Präsenz auszubreiten. Härter noch arbeitet der 41-jährige Pierluigi Billone an der Negation tradierter Klangqualitäten. Die drei Streicher des Ensemble Recherche sägen ihre Instrumente und schaben den Bogen mit einer Wucht über den Steg, dass es kracht.

Georg Klein, um ein drittes Beispiel zu nennen, verliert sich auf wundervolle Weise in Unsicherheiten und Wahrnehmungsstörungen: Das inkohärent blökende Solosaxofon kommt unter dem Einschlag elektronischer Verzerrungen aus dem Dämmerzustand verkaterten Erwachens nicht hinaus. Es bleibt allerdings kein Zweifel: Komponieren ist hier Antithese, sofern Vergangenheit noch jedem der genannten Werke als übermächtiger Subtext, als zu begegnender These zugrunde liegt.

Bei Salvatore Sciarrino, den man heute guten Gewissens zum wichtigsten lebenden Komponisten Italiens schlagen darf, wird dieser Subtext explizit. In Anlehnung an den barocken Topos der Vanitas wirken die Klänge hier verblüht; in verwischten Anspielungen an sizilianische Volkslieder oder Mozart-Arien leuchten die Farben der Vergangenheit in Sciarrinos „Aspern-Suite“ nunmehr blass.

Groß ist Sciarrino in seinen Klangeffekten: Die Streicher versäuseln die Töne, bis Obertöne den Grundton überdecken, die Bläser zischen, indem sie Töne gleichzeitig überblasen und verhauchen. Ein vibrierendes Becken, das verkehrt herum auf einer Pauke liegt und das über dem ständig umgestimmten Fell zu einem verwehten Gesang ansetzt, hätte noch die Beach-Boys vor Neid zerplatzen lassen. Aber schon im Folgekonzert mit Klavierwerken Sciarrinos wird deutlich, dass auch der italienische Meister nur auf Treibsand baut. Das konturierte Schwarzweiß der Tasten lässt die Flüchtigkeit des bloß Angedeuteten kaum zu. Und da Sciarrino offenbar über keinen anderen Gestus verfügt, wirken die Klavierstücke schlicht stumpf.

Der Verzicht auf Grammatik und am Ton orientierte Sprachmodelle zugunsten von Konzepten der Klangskulptur zeitigt Marotten – auch das wurde im Rahmen des „Ultraschall“-Festivals offenbar. Komponisten benötigen ein so deutliches wie marktträchtiges Profil. Eine erfolgreiche Masche – das ist freilich überspitzt – wird ausgebaut und -geschlachtet. Gewiss ist Billones Streichtrio ein Werk, das unter den zeitgenössischen Musiken herausragt. Aber wer seine Solostücke für Viola und für Kontrabass gehört hat, muss sich fragen, wann sich der Komponist bequemt, sich etwas Neues einfallen zu lassen. Für die Werke von Saunders musste der Fundus bekannter Klänge um ganze Gebäudeteile erweitert werden. Und trotzdem gewinnt man den Eindruck, dass der Einfall nach und nach zum Handwerk verkommt. Jemand schlägt einen Nagel ins Holz, und alle rufen: „Uecker“. Jemand knarzt mit dem Geigenbogen und alle brüllen: „Billone“?

Es ist so zickig wie ernüchternd: Auf die Frage nach dem einen erhebenden Moment, für den sich dieses Festival gelohnt hat, nennt man, ohne zu zögern, die Aufführung der „Klangschatten“ von Helmut Lachenmann mit dem Berliner RSO, ein Stück, das 30 Jahre alt ist und das dem Ende des Tones, wie wir ihn kennen, den Weg wies. Hier erklingt Musik eines Komponisten, der des Suchens nicht müde wird.

BJÖRN GOTTSTEIN