Schatzkammer des Wissens in Not

Der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße droht aus Finanzgründen die Schließung. Die 10.000 Bände würden in die Hauptstelle in der Fasanenstraße umziehen, doch eine hundertjährige Geschichte ginge verloren

von MARIJA LATKOVIC

Die „Schatzkammer des Wissens“ war stets bewacht – von einer netten Dame. Für all jene, die die Sehnsucht nach den Quellen des Geistes trieb, hatte sie ein warmes Wort, ein freundliches Lächeln übrig. Nur Neulinge mahnte sie, das ihnen anvertraute Gut sorgsam und vorsichtig zu behandeln. So steht es zumindest in einer Beilage zum Israelischen Familienblatt, das 1934 in Berlin erschien. Von der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ist darin die Rede, jener „Pflegestätte des Geistes“, die jüdisches Wissen lebendig halten wollte.

Am Sonntag, dem 3. Februar, wird die Bibliothek in der Oranienburger Straße 100 Jahre alt. Doch der eigentliche Freudentag könnte zur Trauerfeier werden. Denn einen 101. Geburtstag wird es vielleicht nicht mehr geben. Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde erwägt, die Bibliothek zu schließen. Die Entscheidung soll nach Angaben des Kulturdezernenten der Gemeinde, Moishe Waks, Ende März fallen.

Die Zeiten, in denen stets eine freundliche Dame den Eingang zur Schatzkammer des Wissens bewachte, sind vorbei. Im Dezember ging die letzte Wächterin, Renate Kirchner, in den Ruhestand. Seitdem ist die Bibliotheksleitung auf der Suche nach Ersatz. „Wir befinden uns in einer Übergangsphase“, sagt Moishe Waks. „Wenn der Gemeindeetat im März steht, wissen wir, ob wir uns eine neue Kraft leisten können.“ So lange ist die Stelle unbesetzt. Sollte es dabei bleiben, will Waks eine Schließung der Zweigstelle in der Oranienburger Straße nicht ausschließen.

Für die jüdische Gemeinde würde das einen Verlust bedeuten – und Proteste nach sich ziehen. Nicht, weil man um den Bestand fürchten müsste. Arkady Fried ist sicher, dass „die zirka 10.000 Bände auch über die Hauptstelle in der Fasanenstraße genutzt werden können“. Der Bibliotheksleiter, der seit der Wiedervereinigung sowohl für die Hauptstelle in der Fasanenstraße im Westteil der Stadt wie auch für die Zweigstelle in der Oranienburger Straße zuständig ist, sieht die besondere Bedeutung der Bibliothek vor allem in ihrer Geschichte.

Seit ihrer Gründung am 3. Februar 1902 – damals noch als Bibliothek der gesamten Berliner Gemeinde – hatte sie ihren Sitz in der Oranienburger Straße. Daneben beherbergte sie ein Archiv, in dem man noch heute Unterlagen aus der Vorkriegszeit findet. „Leute kommen aus dem Ausland, um in den Unterlagen nach ihren Vorfahren zu suchen“, weiß Fried. „Manche sind erfolgreich, andere nicht.“ Denn im Sommer 1939 beschlagnahmten die Nationalsozialisten das Gebäude. Quellen gingen verloren. Ein Großteil kehrte erst in den Nachkriegsjahren in den Bestand der Jüdischen Gemeinde zurück.

Dass die Jüdische Gemeinde auch heute noch über zwei Bibliotheken verfügt, ist letztlich eine Folge der Ost-West-Trennnung. Die Spandauer Vorstadt wurde nach dem Mauerbau für viele Ostberliner Juden zu einer Art Zufluchtsort. Gerade weil die Zahl der Gemeindemitglieder sank – 1990 waren es offiziell nur noch 200 – versammelte man sich in der Oranienburger Straße. Schließlich befand sich dort auch die zentrale Synagoge. Sie war im Zweiten Weltkrieg zwar zerstört worden, 1988 begann aber die Restaurierung. Durch die Arbeit des „Centrum Judaicum“ entwickelte sich der Standort wieder zum kulturellen und religiösen Zentrum im Ostteil der Stadt.

Hermann Simon, Direktor der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ hält eine Schließung der Bibliothek deshalb für „äußerst unwahrscheinlich“. Es sei zwar eine Entscheidung der Repräsentantenversammlung. „Dort ist man sich der historischen und kulturellen Bedeutung des Standorts aber bewusst.“ Simon selbst will sich auf jeden Fall für den Erhalt einsetzen. Er weiß, dass es heftige Debatten geben könnte. Gerade weil die Gemeinde Sparmaßnahmen ergreifen muss. Die „Schatzkammer des Wissens“ sollte man dabei aber nicht vernachlässigen. Jetzt, da die freundliche Dame sie nicht mehr hüten kann, fälllt diese Aufgabe eben den Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde zu.