Arbeiten im Osten um jeden Preis

Statt kleiner zu werden, wächst die Lohndifferenz zwischen West- und Ostdeutschland seit vier Jahren wieder

DRESDEN/BERLIN taz ■ Mit dem Kommando „Wasser marsch!“ begann einst Obergärtner Helmut Kohl (CDU) die ostdeutsche Brache zum Blühen zu bewegen. Mehr und mehr versiegt aber der Quell: In den ostdeutschen Lohntüten kam im Jahr 2000 weniger an als noch 1997. Lagen nach Berechnungen des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) Nürnberg die nominal gezahlten Bruttolöhne noch bei 80 Prozent des Westniveaus, so sanken sie auf 79 Prozent im Jahr 2000. Arbeiten des Hallenser Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) bestätigen den Trend – allerdings mit anderem Ergebnis: Nach Auswertung des Datenmaterials des Statistische Bundesamt in Wiesbaden liegen die Ostlöhne durchschnittlich gar nur noch bei 72 Prozent des Westniveaus.

Wobei die Betonung auf durchschnittlich liegt. Nach gestern veröffentlichten Zahlen des Bundesamtes stiegen nämlich die Löhne jener Arbeitgeber, die tarifgebunden sind. Und zwar im Osten überm Durchschnitt: Während etwa Angestelltengehälter im vergangenen Jahr in Gesamtdeutschland um 2,5 Prozent zulegten, stiegen sie in Ostdeutschland um 2,8 Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Der reale Lohnverlust fällt im Osten für all jene, die nicht tarifgebunden sind, stärker aus, als die Zahlen verraten.

Tarifflucht ist Trend

Waren 1993 noch drei Viertel der ostdeutschen Unternehmen tarifgebunden, sind es derzeit nur noch ein Viertel. Und während im Westen Deutschlands 40 Prozent der Firmen über Tarif zahlen, bleiben im Osten 37 Prozent darunter. Es ist die seit längerem bekannte Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, die Ostdeutsche zunehmend erpressbar macht. Welch hohen gesellschaftlichen Wert der Job in Ostdeutschland nach wie vor hat, belegt eine am Montag vorgelegte Infas-Umfrage. Im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit suchten die Meinungsforscher unter 20.000 Befragten nach spezifischen Unterschieden ost- und westdeutscher Arbeitsloser. Ergebnis: Ostdeutsche suchen intensiver nach einem Job, sind eher zu Konzessionen – etwa Standort- oder Berufswechsel – bereit als ihre LeidensgefährtInnen im Westen.

Unter diesem Druck werden Dumpingbedingungen ohnmächtig akzeptiert. Der Organisationsgrad in Gewerkschaften sinkt in Ostdeutschland ebenso stetig wie die Mitgliedschaft von Firmen in Unternehmerverbänden. Besonders betroffen sind der Bau, das Handwerk und die Landwirtschaft. So hat sich im Baugewerbe die Lohndifferenz West/Ost nahezu verdoppelt. In einem strafrechtlich verfolgten Fall eines Hallenser Maschinenbauers war versucht worden, den Facharbeiterlohn bis auf 3,82 Mark je Stunde zu drücken.

Auch spektakuläre Neuansiedlungen sind oft nur dank großer Zugeständnisse zu Stande gekommen. Für die Entscheidung von BMW, das neue Werk in Leipzig zu bauen, ausschlaggebend war die Bereitschaft zu „flexibler Arbeitszeitgestaltung“ – die so nirgendwo im Konzernbereich möglich sind.

Kommunale und öffentliche Arbeitgeber drücken ebenfalls maßgeblich den Lohn: Durch Privatisierung oder Ausgründung von Eigenbetrieben versuchen sie, Kosten in den angespannten Haushalten zu sparen. Das MDR-Wirtschaftsmagazin Umschau deckte einige krasse Beispiele auf, etwa dass Chemnitzer Busfahrer vom ausgegründeten städtischen Subunternehmen nur noch 14 statt 24 Mark Stundenlohn erhalten. Auffällig ist, dass westdeutsche Unternehmer im Osten durchschnittlich mehr Lohn zahlen als ostdeutsche. Die Differenz liegt bei etwa 400 Euro jährlich.

Dennoch eilen nach Feststellungen der Wirtschaftswissenschaftler die Löhne weiterhin der Produktivität voraus. Diese liegt nach – umstrittenen – IAB-Berechnungen gerade mal bei 57 Prozent des Westniveaus. Der daraus resultierende Kostendruck führt zu weiterer Tarifflucht. Und die wiederum zu real sinkenden Löhnen.

Kaum positive Signale

Während in Ostdeutschland kein befragter Arbeitnehmer mehr an eine Annäherung an Westlöhne glaubt, spricht Udo Ludwig vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle dennoch von einem Angleichungsprozess. Es werde aber wahrscheinlich in den nächsten zehn Jahren eine Phase der Stagnation geben.

MICHAEL BARTSCH/NICK REIMER