wir lassen lesen
: Die Memoiren der Leichtathletin Heike Drechsler

Leben mit Sonnenstrahl

Wer eine Autobiografie schreibt, läuft gelegentlich Gefahr, die Bedeutung des eigenen Daseins für die Leserschaft und das gesamte Universum inklusive fremder Planeten etwas zu überschätzen: „Kaum war ich geboren, ging die Sonne auf und ein Sonnenstrahl fiel auf mich.“

Nein, nicht die sensationelle Lebensgeschichte eines bis dato unbekannten Heilands ist in Buchform erschienen, sondern bloß die gesammelten Erinnerungen von Heike Drechsler. Und als sie derart lichtumflutet als Heike Gabriela Daute am 16. Dezember 1964 zur Welt kam, meinte schon die Hebamme, dass das ein gutes Omen sei. In der Tat: Drechsler wurde zur „Grande Dame der deutschen Leichtathletik“ (Spiegel), gewann zwei olympische Goldmedaillen im Weitsprung, holte vier Weltmeistertitel und stellte sowohl in ihrer Lieblingsdisziplin als auch im Siebenkampf und über 200 Meter mehrere Weltrekorde auf.

Im Bücherschreiben allerdings dürfte sie vermutlich nicht ganz so erfolgreich werden. Denn bis es in „Absprung“ endlich interessant wird, nimmt Drechsler – wie gewohnt – einen langen Anlauf. 17 Schritte oder 38,5 Meter mindestens muss sich der Leser durch die haarkleine Schilderung ihrer Kindheits- und Jugenderlebnisse in der ehemaligen DDR quälen. Und erfährt Sachen, die er eigentlich gar nicht so genau wissen wollte. Wie wild die kleine Heike schon als Einjährige war, wie ihre Freunde mit Vor- und Nachnamen hießen und wie sie eines Tages ihre kleine Schwester mit Latexfarbe bemalte. Zu viele Details, obwohl Drechsler findet: „Natürlich kann ich mich an so vieles längst nicht mehr erinnern.“ In diesem Tonfall ist das Buch durchweg verfasst.

Noch zahlreiche Seiten Hanni-&-Nanni-Berichterstattung sind zu überstehen – dann hat man sich etwas an den Stil gewöhnt, und es wird endlich ein bisschen interessanter: Sie schafft den Sprung in die DDR-Nationalmannschaft, schildert den harten Konkurrenzkampf und ihre Erfahrungen als ostdeutsche Sportlerin auf Wettkämpfen im Westen sowie als privilegierte DDR-Bürgerin in ihrer Heimat. Es wird deutlich und nachvollziehbar, wie schwer es für die Athletin gewesen ist, den Zusammenbruch des Systems mitzuerleben, das sie mächtig gefördert und bevorzugt hat. Heike Drechsler, damals selbst SED-Mitglied und Volkskammerabgeordnete, gibt heute zu, dass sie zu unkritisch gewesen sei. Umso tiefer saß der Schock, als sie nach der Wende mit Stasi-Vorwürfen konfrontiert wurde und entdecken musste, dass sie – offensichtlich ohne ihr Wissen – unter dem Decknamen „Jump“ als inoffizielle Mitarbeiterin des Staatssicherheit geführt wurde. Ein sehr guter Freund hatte sich kurz zuvor als Spitzel geoutet. „Meine Naivität hatte mich eingeholt“, gesteht Drechsler.

An solchen Stellen ist das Buch am stärksten. Dann nämlich, wenn ihre Verzweiflung am größten ist und sie nicht krampfhaft versucht, die staatlich organisierte Sportförderung der DDR zu lobhudeln. Ihr Rezept gegen Probleme bei der Vergangenheitsbewältigung ist nicht das schlechteste: Sie flüchtet in den Sport, ist nach wie vor zu Wahnsinnsleistungen im Stande und gewinnt bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney im Alter von knapp 36 Jahren noch einmal Gold. Ihrer Meinung nach der Gegenbeweis zu den immer wieder aufkochenden Dopingvorwürfen: „Denn die Leistungen, die ich nun unter regelmäßigen Dopingkontrollen brachte, sprachen doch eine eigene Sprache.“ Genauso unmissverständlich sind aber auch die Unterlagen, in denen ostdeutsche Wissenschaftler die Dopingvergabe an Athleten protokolliert haben. Und in denen auch der Name Heike Daute auftaucht.

Als die ehemalige Leistungssportlerin Brigitte Berendonk sie 1991 in ihrem Buch über Doping als „Musterbeispiel von harmonischem Jugend-Doping“ bezeichnete, bezichtigte Drechsler die Autorin öffentlich der Lüge. In ihrer Autobiografie geht die Sportlerin nur andeutungsweise auf diesen Vorfall ein: „Aufgrund einer vielleicht unglücklich gewählten und missverstandenen Äußerung musste ich später sogar vor Gericht.“ Zusätzlich noch ein leugnender Satz zum flächendeckenden Doping in der ehemaligen DDR – das war’s dann auch schon, was Heike Drechsler zu dem Thema zu sagen hat.

Ein bisschen mehr Offenheit – auch wenn es sicher schwer fällt – an dieser und ein wenig mehr Diskretion an anderer Stelle hätte dem Buch sicher gut getan. Vorausgesetzt, der Lektor hätte sich von Heike Drechslers sportlichem Ehrgeiz anstecken lassen. JUTTA HEESS

Heike Drechsler: „Absprung. Autobiographie“. Sport Verlag Berlin 2001, 261 Seiten, 20 Euro