Jäger zu Hirten

■ Zwei Oldenburger Forscher lebten bei den brasilianischen Canelas / Ihr Einsatz half den Indianern zu Überleben / „Wer Hunger hat, verliert seine Kultur“

Mit kurzen, aber kräftigen Schritten flitzt ein schlanker Kerl über staubigen Boden. Auf seiner dunklen Schulter lastet ein sperriger Baumstamm. Den Palmenklotz fest im Griff, nimmt der Indianer jede Hürde, überwindet Stock und Stein, kämpft sich durch hüfthohes Wasser – dann schwinden seine Kräfte. Schnell bietet ein anderer seine Schulter an, trägt das Holz ins vereinbarte Ziel. Der Klotzlauf, bei dem zwei Gruppen gegeneinander antreten, ist ein wichtiges Ritual im Stammesleben der brasilianischen Canela-Indianer.

Um diese Rituale etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, packten zwei Wissenschaftler der Uni Oldenburg zum ersten Mal 1988 ihre Sommerklamotten und reisten in die Savanne Ostbrasiliens. Mehrere Monate lebten Jakob Mehringer und Jürgen Diekert, der eine Ethnologe, der andere Sportwissenschaftler, im Dorf der Canelas, das 70 Kilometer vom nächsten Telefon und Fernsehgerät entfernt am Rande des tropischen Regenwaldes liegt. Sie interessierten sich für die „Spiel- und Bewegungskultur“ der dunkelhäutigen Indianer. Zwar gab es vor den beiden schon zwei Forscher, die bei den Canelas lebten. Doch weder Curt Nimuendajó noch William Crocker fanden heraus, dass Rituale wie der anstrengende Klotzlauf mehr sind als sportliche Ertüchtigung.

„Die Canela-Indianer sind typische Jäger und Sammler“, sagt Jürgen Diekert. Laufen und Tragen sind für sie lebensnotwendige Fähigkeiten. Oft legen sie viele Kilometer zurück, schleppen Bananen und Mangos oder ein erlegtes Wild.

Dennoch ist der Klotzlauf kein Turnunterricht, in dem diese Fähigkeiten trainiert werden. Die Canelas kennen keine Schrift, ihre Rituale dienen der Verständigung – Kommunikation auf indianisch sozusagen. Während ihrer Aufenthalte bei den Indianern fanden Diekert und sein Kollege heraus, dass die Rituale den Nachwuchs-Indios die traditionellen Werte vermitteln. Die agilen Kleinen lernen, dass es ihnen Anerkennung innerhalb der Dorfgemeinschaft einbringt, wenn sie besonders schnell laufen oder besonders Schweres tragen. Und dass die Canelas nicht einfach nur gut flitzen und schleppen können, sondern manch europäischen Muckibudengänger in die Tasche stecken, fanden die Forscher auch heraus: Bei einem Körpergewicht von 60 Kilogramm schleppen die Indianer bis zu 150 Kilogramm schwere Klötze.

Andere Riten, andere Werte. Das Ritual des Gütertausches, bei dem die Canelas ihre Krüge, Messer und Macheten untereinander austauschen, zeigt ein anderes Prinzip der Gemeinschaft: Alles gehört allen. Für andere Riten bemalen sich die Frauen und Männer mit roter Farbe, überliefern singend die Sage des Morgensterns, nach der dieser den Indianern die vielseitig verwendbare Palme brachte. Oder sie tanzen alle zum Rhythmus einer Rassel, um die Gemeinschaft zu stärken.

Im Laufe der vielen Aufenthalte wurden Mehringer und Diekert Teil des Canela-Volkes. Anfangs erforschten sie nur die Riten, später wollten sie den Canelas vor allem helfen.

„Wer Hunger hat verliert seine Kultur, verstößt gegen Werte und Normen“, sagt Diekert. Krankheiten aufgrund von Mangelernährung waren bei den Canelas deutlich zu sehen. Das Jagen alleine konnte die Bäuche der Canelas lange nicht mehr füllen – der Wildbestand nimmt wegen fortschreitender Besiedlung des Landes immer mehr ab.

Das Oldenburger Forscherteam startete ein Hilfsprojekt, um die Ernährung und damit die Kultur der Canelas zu sichern. Mit Mitteln der deutschen Forschungsgemeinschaft gelang es, aus den Jägern und Sammlern auch Hirten zu machen: heute trottet eine ganze Herde Rinder durch das Indianerdorf; Tierärzte lehrten den Umgang mit dem Vieh.

Diese massive Veränderung konnte der scheinbar lebhaften Kultur nichts anhaben: Von Juli bis September des vergangenen Jahres haben sich Mehringer und Diekert davon überzeugt. Heute genügen den Canelas täglich vier Stunden, um für Nahrung zu sorgen, der Rest des Tages gehört dem Singen, Rennen, Tanzen, Feiern.

Das Engagement der beiden hatte sich gelohnt, im Jahre 1993 wurden Mehringer und Diekert sogar dafür ausgezeichnet. Der damalige UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali übergab den Forschern in Wien den Menschenrechtspreis der Bruno-Kreisky-Stiftung. Jürgen Diekert blieb bescheiden: „Nicht wir, sondern die Indianer bekamen den Preis“.

Michel Dallaserra

Im Rahmen der Sendereihe „Die Erde – live“ berichtet das ZDF am Sonntag, dem 3. Februar, ab 19.30 Uhr per Liveschaltung von den Canelas.

Außerdem zeigt das Bremer Übersee-Museum im Übermaxx (im Cinemaxx-Kino) tägliche Gebrauchsgegenstände der brasilianischen Indianer.