Der schwunglose Aufmarsch des Volkes

Max Lingners Wandbild der Werktätigen am heutigen Finanzministerium zeigt die DDR ohne Aufbruchstimmung

„Kein einziger seiner Kollegen behauptete von sich, Lingner zu kennen“, stellte der Bundesfinanzminister anlässlich einer Dokumentation über die Entstehung von Max Lingners Wandbild am Bundesfinanzministerium fest. Da mag es den Kollegen ebenso gegangen sein wie dem Maler selbst. Denn die Kurven im Lebensweg des 1959 verstorbenen und zuletzt in der DDR hoch geehrten Künstlers lassen vermuten, dass dieser seinen Standpunkt in der Welt nie so recht fand.

1888 in Leipzig als Sohn eines Holzschneiders für Zeitungsdruckformen geboren, arbeitete er sich bis zum Meisterschüler an der Akademie in Dresden hoch. Der Erste Weltkrieg hinterließ in Lingners Werk keine nennenswerten Spuren. Vor dem Faschismus floh er nach Paris, um dort als Zeichner bei der Zeitung L’ humanité zu arbeiten. Im Zweiten Weltkrieg wurde er von den Nazis inhaftiert, konnte aber aus einem französischen Konzentrationslager fliehen und in die Illegalität untertauchen. 1949 kehrte er nach Ostberlin zurück, in die frisch gegründete Deutsche Demokratische Republik.

Im August 1950 beteiligte er sich an einem Wettbewerb für ein Wandbild in der offenen Pfeilervorhalle des damaligen Hauses der Ministerien. Das Auftragswerk erhielt den sperrigen Titel „Die Bedeutung des Friedens für die kulturelle Entwicklung der Menschheit und die Notwendigkeit des kämpferischen Einsatzes für ihn“. Und auch die letztendliche Ausführung versprüht weder Witz noch muntere Aufbruchstimmung. Dabei hätte der betonschwere Aufmarsch der werktätigen Volksgruppen auch anders aussehen können, wie die nun gezeigten Skizzen Lingners vermuten lassen.

Auf einer lockeren Bleistift-Wasserfarb-Zeichnung wird eine rhythmisch strukturierte Figurenanordnung erkennbar, leicht und schwingend. Selbst die dritte Fassung, eine Deckfarben-Skizze, schafft noch ein spannungsreiches Wechselspiel aus Hell und Dunkel, Blau und Rot. Erst in der Ausführung reduzierte Lingner die Kontraste auf ein suppiges Minimum, den Dargestellten kommt jede Individualität abhanden. Als das Werk nach längeren Auseinandersetzungen am 3. Januar 1953, dem Geburtstag des Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, enthüllt wurde, hatte sich der Maler den staatlich vorgegebenen künstlerischen Prioritäten restlos gefügt.

Noch kurz vor der Einweihung waren einige Kacheln ersetzt worden, um die dargestellten Waffengattungen der Volkspolizei auch wirklich deutlich werden zu lassen. Lingner nahm das hin und distanzierte sich von seinen vorangegangenen Entwürfen, die er nun als „fremdländisch“ bezeichnete. In einem im Mai 1951 verfassten Brief an den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht versprach er, „der deutschen Kunst verloren geglaubtes Erbgut zurückzubringen“.

Das monumentale Kachelbild mit den forsch ausschreitenden Jungpionieren wurde vor zwei Jahren mit einer Fotoinstallation von Wolfgang Rüppel kontrastiert. Die auf dem Vorplatz eingelassene, mit Panzerglas geschützte Schwarzweiß-Reproduktion zeigt ein Bild des Arbeiteraufstandes in der DDR vom 17. Juni 1953. Und schneidet damit scharf in den Horizont des stalinistischen Wunschbildes der „Massen“, das Lingner fertigte. Der tatsächliche Aufbruch durfte erst Jahrzehnte später zum Historienbild werden.

RICHARD RABENSAAT

Dokumentation im Bundesministerium der Finanzen, Wilhelmstraße 97, Mitte, bis 7. Februar, nur mit Anmeldung unter: 22 42 37 49