Kükenjagd in Teheran

Die globalen Folgen antiautoritärer Erziehung: Beim Kinderfilmfest kann man sehen, wie freche Gören ihre allzu duldsamen Eltern im Griff haben

von THOMAS WINKLER

In Island wird gesungen, im Iran gekreischt, in Australien geflunkert, in Deutschland gezaubert, in Kanada geschwiegen, in Norwegen gezieltes Infomanagement betrieben und in Dänemark werden sogar Banken ausgeraubt und Häuser renoviert in Abwesenheit der Eltern: Die Methoden mögen sehr unterschiedlich sein, aber glaubt man dem Programm des diesjährigen Kinderfilmfestes, dann haben die minderjährigen Protagonisten ihre Erzeuger und Erzieher fest im Griff.

Vor allem in den gleich drei dänischen Produktionen des diesjährigen Kinderfilmfests manifestieren sich die Folgen der antiautoritären Erziehung. In „Kletter-Ida“ machen sich drei angehende Teenager auf, eine Bank auszurauben, um die Familie vor der Pleite zu retten. In „Send mehr Süßes“ müssen sich arrogante Stadtkinder an den Geruch eines Misthaufens gewöhnen. Und in „Die Kinder meiner Schwester“ nehmen vier Geschwister die Geschicke ihrer Familie selbst in die Hand, anstatt sich auf die trotteligen und wenig entschlussfreudigen Erwachsenen zu verlassen. Je nach Ausgangslage wird das Wohnhaus zuerst renoviert, um die Eltern vom Verkauf abzubringen, und anschließend wieder zerstört, um die Bemühungen der Maklerin zu torpedieren. Der babysittende Onkel ist willfähriges Opfer der Kinder, die sich selbst eine Diät aus Hotdogs zum Frühstück, Mittag- und Abendessen verordnen.

Ein wenig weiter nördlich, in Reykjavík, gehorcht Regina nur in Ausnahmefällen und braucht nur mit dem Finger zu schnippen, um ein Ballett aus Müllmännern, Postboten und Straßenkehrern auszulösen. Denn „Regina“ ist ein Musical. Ein überaus buntes, grelles und lautes Musical. Nach sensiblen Zwischentönen sucht man hier vergeblich, aber die Zuschauer dürften genauso viel Spaß haben wie die Protagonistin, deren Zöpfe denen von Pippi Langstrumpf Konkurrenz machen.

Selbst im Iran entwickeln schon Fünfjährige unglaubliches Durchsetzungsvermögen: In „Küken“ kauft sich die dauerquengelnde Zahra, allein gelassen von ihren berufstätigen Eltern, ein frisch geschlüpftes Huhn als Heilmittel gegen Langeweile und Einsamkeit. Als sich das Küken ein Bein bricht, zwingt Zahra mit geradezu unglaublicher Sturheit die gesamte Familie in die Suche nach einem geeigneten und willigen Arzt. Die Odysee führt vom Hausarzt in die Apotheke, in den Zoo und auf den Markt, wo ganze Umzugskartons voller gelb, grün oder orange gefärbter Küken warten. Anstatt sich für ein paar Pfennige einen bunteren Ersatz kaufen zu lassen, treibt sie ihren stummen Vater erbarmungslos durch ganz Teheran. Der ist der Liebe zu seiner Tochter vollkommen erlegen und gibt schließlich sogar die für eine Pilgerreise vorgesehenen Ersparnisse für das Küken dran. Denn das Leben, das weiß Zahra und das lernen langsam auch die Erwachsenen, ist unbezahlbar.

Im einzigen deutschen Beitrag „Hilfe, ich bin ein Junge“ lernen die Protagonisten, wie wertvoll das eigene Leben sein kann. Dank einer unbedacht ausgesprochenen Verwünschung wacht Emma eines Morgens im Körper ihres Klassenkameraden Mickey auf und umgekehrt. Der Plot um das Zauberbuch, den nach einem Nachfolger suchenden Magier und die Kinder, die den Zauber wieder rückgängig machen müssen, ist trotz hochkarätiger Besetzung (Dominique Horwitz, Nina Petri, Pinkas Braun) ein wenig altbacken inszeniert. Aber allein der Rollentausch ist von Oliver Dommenget mit vielen kleinen Details und Regieeinfällen und mit talentierten Hauptdarstellern so fantasievoll und unterhaltsam umgesetzt, dass „Hilfe, ich bin ein Junge“ zu den besten Filmen für ein junges Publikum gehört, die in den letzten Jahren hierzulande gedreht wurden.

Da scheint sich nun doch noch was zu tun. In manchem Jahr fand Kinderfilmfestleiterin Renate Zylla gar keinen deutschen Beitrag, oder die heimische Ware lieferte den unfreiwilligen Humor des Programms. Mit „Hilfe, ich bin ein Junge“ findet sich nun schon zum zweiten Mal hintereinander ein sehenswerter deutscher Film in der Auswahl von Zylla. „Der Mistkerl“, ein großer Publikumserfolg 2001, schaffte es anschließend sogar bis ins Kino. Noch aber, das zeigt auch dieses Festival wieder, ist die deutsche Kinderfilmproduktion nicht mit der der skandinavischen Länder zu vergleichen.

Noch ist es sicherlich zu früh, eine grundsätzliche Verbesserung der ebenso erbärmlichen wie verfahrenen Situation, die sich aus Unterfinanzierung und schlechtem Image ergibt, zu diagnostizieren. Aber vielleicht entwickelt das Kinderfilmfest nun doch endlich eine – seinem internationalen Rang entsprechende – Wirkung auf den heimischen Markt. Schließlich ist das Berliner Festival das einzige große weltweit, das sich eine eigene Sektion für Kinder- und Jugendfilme leistet, und das seit nun schon exakt 25 Jahren. Das Jubiläumskinderfilmfest wird heute Nachmittag von Eva Mattes eröffnet. Im Laufe des Jahres wird noch ein Buch erscheinen, das zurück blickt auf ein einzigartiges Forum, welches überaus erfolgreich Filme über und für Kinder präsentiert.