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Unter dem Stichwort „Elektrische Schatten“ – der wörtlichen Übersetzung des Wortes für „Film“ – zeigt das Berlinale-Forum Werke des neuen chinesischen Kinos. Eine Übersicht

von DOROTHEE WENNER

Hai xian (Seafood)

Regie: Zhu Wen

Ein traurig-absurder Liebesfilm, der sich so nur in China abspielen kann. Eine junge Prostituierte beschließt am Neujahrsfest, Selbstmord zu begehen. Doch ihr Hotelnachbar in der Pension des schmuddeligen Provinzstädtchens kommt ihr zuvor, und ein ziemlich kauziger Polizist hängt sich an ihre Fersen. Weil sich der „Ermittler“ bei seiner Arbeit in sein Beobachtungssubjekt verguckt, wird es der Prostituierten äußerst schwer gemacht, sich nun ihrerseits das Leben zu nehmen. (Forum)

Tiexi qu (Tiexi District)

Regie: Wang Bing

Früher wurden in den traditionsreichen Kombinaten des Tiexidistrikts in der Mandschurei unter anderem Bajonette und Telefonkabel produziert. In den Werkshallen standen Maschinen, die die Rote Armee aus der DDR als Reparationszahlung abmontiert hatte. Wang Bing dokumentiert den Niedergang dieses riesigen, einst sehr erfolgreichen Industriegebiets mit atemberaubenden Bildern und Geschichten. Korruption und Misswirtschaft haben nach der Schließung des Werks etwa eine Million Menschen arbeitslos gemacht – nicht einmal in China ist wirklich bekannt, welche Auswirkungen die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den benachteiligten Regionen mit sich bringt. Diese mutige Dokumentation sollte man unter keinen Umständen verpassen! (Forum)

Jin nian xia tian (Fish and Elephant)

Regie: Li Yu

Erster chinesischer Spielfilm mit lesbischer Thematik: Die eine Frau – Xiao Qun – arbeitet als Elephantenwärterin, die andere – Xiao Ling – als Verkäuferin in einer Boutique. Ihre zunächst sehr unbeschwerte Liebesgeschichte wird plötzlich kompliziert, als Xiao Quns geschiedene Mutter zu ihrer Tochter zieht, mit der festen Absicht, sie zu verheiraten. Die Mutter ahnt nicht, dass die Tochter lesbisch ist. Dann taucht auch noch eine verflossene Geliebte auf, die in dramatischen Schwierigkeiten steckt. Wie alle anderen Schauspieler sind die beiden Hauptdarstellerinnen Laien, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten waren sie auch im realen Leben ein Paar, haben sich aber inzwischen getrennt. „Ihre Liebe jedoch wird für immer in meinem Film weiterleben“, sagt Li Yu. (Forum)

Mi yu shi qi xiao shi (Weekend Plot)

Regie: Zhang Ming

So grandios wurden Badeanzüge selten inszeniert – aber das ist nur das Sahnehäubchen auf dem zweiten Teil einer Trilogie, die vor sechs Jahren mit „Regenwolken über Wushan“ begann. „Weekend Plot“ ist eine Art surrealer Thriller am Ufer des Jangtse, aber die Leiche im Fluss ist nur eine Schrecksekunde lang nicht als Schaufensterpuppe zu erkennen. Es geht um die komplexen unterschwelligen Beziehungen einer Gruppe junger Leute aus Peking, die eigentlich nur ein unbeschwertes Wochenende miteinander verbringen wollten. Doch ein winziger Zettel und eine eifersüchtige Ehefrau bringen eine Filmgeschichte in Schwung, die auf interessanteste Art Antonionis „L’Avventura“ beerbt. Möglicherweise der Film mit dem besten „Colour Concept“ der ganzen Berlinale. (Forum)

Xi wang zhi lu (Railway of Hope)

Regie: Ning Ying

Die durch ihre Spielfilme („On the Beat“, „I love Beijing“) auch hierzulande schon bekannte Regisseurin Ning Ying begleitet in dieser Dokumentation Bauern und Bäuerinnen aus Sezuan auf ihrer langen Zugreise in den Norden, wo sie als Erntehelfer auf den gigantischen Baumwollfeldern Geld verdienen wollen. Für viele ist es die erste Reise, für fast alle bedeutet es großes Glück und Abenteuer, für ein paar Wochen unterwegs zu sein. (Forum)

Enan no musume (Daughter from Yan’an)

Regie: Ikeya Kaoru

Ein zwar japanischer Film, in dem es jedoch um die chinesische Kulturrevolution geht. Erzählt wird die Geschichte von He Hai-xa, die als Kind einer illegalen Liebesaffäre von Rotbrigardisten in jenen stürmischen Zeiten zur Welt kam. Ihre Eltern haben sie nach ihrer Geburt bei Bauern gelassen und sich nie wieder um die Tochter gekümmert. Dreißig Jahre später macht sich He Hai-xa auf die Suche nach Vater und Mutter, die wieder in Peking wohnen. (Forum)

Als Dokumentarfilm eine ideale Ergänzung zu:

Chen Mo he Meiting (Chen Mo und Meiting)

Regie: Liu Hao

Ein Generationenporträt der heute dreißigjährigen Chinesen, die während der Kulturrevolution geboren wurden. Wie Chen Mo und Meiting wuchsen damals Millionen dieser Kinder nicht bei ihren Eltern auf, sondern wurden zu Großeltern oder Verwandten zurück in die Städte geschickt – wo nur die wenigsten willkommen waren. Dieses Schicksal hat diese Generation früh und viel über das Leben gelehrt, hat sie aber auch liebeshungrig und liebesunfähig gemacht. Ein realistisch gemachter, bewegender Liebesfilm, der völlig unaufdringlich davon erzählt, wie in Peking Wohn-, Arbeits- und Liebesverhältnisse aufs engste miteinander verknüpft sind. (Forum)

Tie lu yan xian (Along the Railway)

Regie: Du Haibin

Der Filmemacher dieser Langzeitbeobachtung ist etwa so alt wie seine Protagonisten: Es sind jugendliche Obdachlose, die entlang der Eisenbahnschienen in der Region Baoji gestrandet sind. Sie gehören zu den Unzähligen, die auf dem Weg vom Land in die Stadt lange vorm Zentrum gestrauchelt und hängen geblieben sind. Ohne falsche Sentimentalität, dafür mit sehr viel Nähe wird eine Notgemeinschaft derer porträtiert, für die im China von heute kein Platz zu sein scheint. Ihre Sicht auf die Welt ist der pure Existenzialismus des 21. Jahrhunderts. (Forum)

Yue shi (Mondfinsternis)

Regie: Wang Quan’an

Geheimnisvolle, sehr modern erzählte Dreiecksgeschichte um einen Hobbyfotografen, der das junge Glück eines frisch vermählten Ehepaars vorzeitig enden lässt. Die drei treffen sich wie zufällig bei einer Landpartie. Auf dem gemeinsamen Heimweg in die Stadt sagt der Fotograf der Frau, sie sehe einer seiner ehemaligen Geliebten zum Verwechseln ähnlich – und diese folgenreiche Behauptung scheint nicht aus der Luft gegriffen zu sein. (Forum)

Xingfu Shiguang (Happy Times)

Regie: Zhang Yimou

Neuester Spielfilm vom bekannten Meisters des chinesischen Melodramas („Red Sorghum“, „Ju Dou“): Traurige Komödie mit viel Human Touch um ein blindes Mädchen und einen Frührentner, der sich in die falsche Frau verliebt. Der Film ist eine Parabel, die trotz der Darstellung eines ärmlichen Arbeitermilieus doch sehr versöhnlich und zuversichtlich in Chinas Zukunft blicken lässt. (Wettbewerb, außer Konkurrenz)

He zi (The Box)

Regie: Ying Weiwei

Dokumentarfilm über ein lesbisches Paar, dessen Wohnung zu einem „paradiesischen“ Ort inmitten einer lustfeindlichen Gesellschaft geworden ist. Die beiden jungen Frauen erzählen mit verblüffender Offenherzigkeit über ihre Kindheit und Jugendzeit, wie lieblos es in ihren Familien zuging – und was sie heute aneinander haben. (Forum)

Wo men hai pa (Shanghai Panic)

Regie: Andrew Cheng Yusu

Neulich wurde die Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin dieses Videos in einer Frauenzeitschrift als „Stuckrad-Barre von Schanghai“ bezeichnet. Ein vielleicht zweifelhaftes Kompliment für MianMian, deren Ruhm als chinesische Kultautorin längst auch bis nach Deutschland drang. Der Film spielt im Milieu der chinesischen Jeunesse dorée: Das wilde, unbeschwerte Partyleben eines hippen Freundeskreises wird jäh unterbrochen, als der siebzehnjährige Tänzer Bei fürchtet, HIV-positiv zu sein. (Forum)

Hua Yan (Dazzling)

Regie: Xin Lee

Ein unter Schlaflosigkeit leidender Platzanweiser kann seine Kinoerlebnisse und das reale Leben nicht mehr auseinander halten, nur in der Dunkelheit fühlt er sich wohl und sicher. Als er in einer Bar auf eine seelenverwandte Frau trifft, beginnt für die beiden eine Geschichte, die an eine chinesische High-Tech-Version vom „Himmel über Berlin“ erinnert. Ein weiterer Film aus Schanghai, der Stadt, die noch weit mehr Science-Fiction-Schauplätze aufzubieten hat als Peking. (Panorma)

Wang Shouxian de xia tian (Wang Shouxians Sommer)

Regie: Li Jixian

Als ein Filmteam in einem entlegenen Dorf im Nordwesten Chinas ankommt und in der Schule einen Darsteller sucht, gerät das Leben des zwölfjährigen Wang Shouxian völlig aus den Fugen. Trotz seines grandiosen, tränenreichen Auftritts beim Casting bekommt er die Rolle nicht, weil er ein schlechter Schüler ist. Aber damit will sich Wang Shouxian nicht abfinden. Der Film über den Film bewundert die kindliche Dickköpfigkeit des Jungen, die als etwas ebenso Unterhaltsames wie Vorbildliches dargestellt wird. (Forum)

He mein gong tiao wu (Dance with Farm Workers)

Regie: Wu Wenguang

Als Filmemacher, Filmkritiker, Herausgeber einer Kunstzeitung und Performanceartist zählt Wu Wenguang schon seit längerem zu den produktivsten Intellektuellen der Pekinger Szene. Zusammen mit seiner Frau, der Choreografin Wen Hui, dokumentiert er in diesem Video die Zusammenarbeit von dreißig Landarbeitern, die gemeinsam mit zehn Künstlern in einer stillgelegten Textilfabrik eine Performance erarbeitet haben. (Forum)

Wo bu yao ni guan (Leave Me Alone)

Regie: Tiger Hu

Eine wilde und aufschlussreiche Tour durch das Nachtleben von Peking. Die Dokumentation erkundet Clubs, Wohnungen und Nachtbars auf den Spuren von zwei äußerst smarten und lebensklugen Prostituierten, die einen befreundeten Exjunkie mit durchfüttern – so gut es eben geht. (Forum)

Big Shot’s Funeral

Regie: Feng Xiagong

Donald Sutherland spielt einen Regisseur, der in der Verbotenen Stadt in eine kreative Krise schlittert. Die Freundschaft zu seinem chinesischen Kameramann scheint ihn zu retten, doch dann fällt der Regisseur in ein Koma. Sutherlands letzter Wunsch ist es, seine Beerdigung als Komödie zu inszenieren, um sich damit auf die buddhistische Wiedergeburt vorzubereiten. (Panorama)

Info & Termine: www.berlinale.de, www.fdk-berlin.deDOROTHEE WENNER, 40, lebt als freie Autorin und Regisseurin in Berlin