Samstagabend in Peking

Wie verbringt die junge hauptstädtische Generation das Wochenende? Eine Umfrage

von ZHANG XUDONG

Li Ting, 29, Angestellte eines Musikverlags: Ich war im ausverkauften „Arbeiterstadion“, wo von der Zeitung Music Live Preise an die besten Sänger und Sängerinnen des vergangenen Jahres verliehen wurden. Aus diesem Anlass fand ein großes Popkonzert statt, mit Sängern vom Festland, aus Hongkong und Taiwan. Es war eine merkwürdige Mischung von alten und neuen Stars wie Tian Zhen, Na Ying, Han Hong, Chang Huimei, Tung Anke, aber mir hat es trotzdem gefallen, weil auch meine Lieblingshits „Gestern“, „Wilde Blüten“, „Nicht traurig sein“ aufgeführt wurden. Das Stadion hat 18.000 Plätze. Die Karten haben hundert bis vierhundert Yuan (zwölf bis fünfzig Euro) gekostet, das können sich nur ziemlich reiche Leute leisten – entsprechend „zivilisiert“ ging es zu. Ich war eingeladen, weil eine von unserer Firma herausgegebene CD einen Preis bekommen hat.

Shuyu Kong, 22, Friseuse: Ich habe mich den ganzen Abend mit meiner Kollegin gestritten, weil die unser gemeinsames Zimmer immer so verwüstet. Als wir uns endlich wieder versöhnt hatten, kam der Chef vorbei. Er war ziemlich angetrunken und brachte einen Freund mit, den ich dann massieren musste. Ich bin nur noch genervt und hoffe, dass ich bald einen anderen Job finde.

Peipei, 27, Barbesitzerin: Ich war natürlich in meiner Bar, die ich mit meiner Freundin seit zwei Jahren betreibe. Es gab eine Filmvorführung bei uns. Meine Gäste und ich drehen regelmäßig Filme, mit einer High-8-Kamera. Wir drehen Filme über uns. Wir haben kein Drehbuch, sondern drehen einfach, was in der Bar passiert. Wie die Gäste sich miteinander unterhalten oder wie einer allein an der Bar sitzt und die ganze Zeit an die Decke schaut oder wie ein anderer sich über den Spielautomaten aufregt. Meine Gäste sind alle Stammkunden, die Bar ist ihr Wohnzimmer. Sie kommen jeden Tag hierher und reden über Liebe und Sex, aber manchmal diskutieren sie auch lange darüber, wie man am besten eine Lammknochensuppe kocht. Das alles wird aufgenommen. Jeden Tag bringt ein anderer Gast eine leere Kassette mit. Wir sehen uns dann später die Aufzeichnungen an und lachen uns tot.

Wang Ping Ping, 16, Schülerin: Oh … ich habe immer noch einen Kater. Mein Freund und ich waren in der „Bananenbar“. Das ist eine Disko, die im Moment ziemlich in ist und wo gerne Drogen genommen werden. „Kopfschüttelpillen“ sagt man auf Chinesisch. Ehrlich gesagt – ich mag das auch. Ich habe die ganze Nacht getanzt. Irgendwann aber wäre es beinahe zu einer Schlägerei gekommen, in die auch mein Freund verwickelt war. Ich kann mich aber nicht mehr genau erinnern, worum es ging. Mein Freund leider auch nicht.

Xi Ling, 27, Unternehmerin: Samstag war die Einweihung unseres neuen Firmensitzes. Vor kurzem habe ich ein 110-Quadratmeter-Apartment gekauft und es als Büro eingerichtet. Ich habe seit vier Jahren eine kleine Werbefirma und beschäftige inzwischen fünf Angestellte. Meine Eltern, die schon in Rente sind, helfen mit. Meine Mutter hat gekocht – ein Achtgängemenü. Acht ist eine Glückszahl. Sie bedeutet viel Reichtum. Es ist gerade Krebssaison. Das Gericht mit den Krebsen war der Höhepunkt des Abends. Als es so weit war, haben wir die noch lebenden Tiere in die Dampfkörbe gelegt und zehn Minuten lang gegart, dann mit einer Ingwer-und-Essig-Soße gegessen und Reiswein dazu getrunken – köstlich.

Li Qing, 31, Koch: Ich war mit meinen Freunden im Internetcafé. Wie fast jeden Abend.

Zhang Lan, 23, Journalistin: In Peking musst du zu einem Kreis gehören. Bist du nicht in einem Kreis, bist du verloren. Bist du in einem Kreis, kommst du da so leicht nicht wieder heraus. Es sei denn, du bist Journalistin, weil du dann zu mehreren Kreisen gehören kannst. Du wirst immer angerufen. Du triffst deinen Kreis immer am Wochenende. Ich war den ganzen Tag über mit den aus dem Ausland Zurückgekehrten zusammen. Die leben ganz anders als die normalen Chinesen. Sie sind gern im Freien, spielen Golf, reiten oder wandern. Wir waren am Samstag wandern. Wir sind ganz schön weit gefahren, zur Großen Mauer, siebzig Kilometer von Peking entfernt. Wir sind aber nicht die normale Touristenstrecke gelaufen, sondern über einen ganz steilen Pfad geklettert, bis nach ganz oben. Die Luft ist so schön außerhalb der Stadt. Den Abend habe ich mit einem andern Kreis verbracht, mit jungen Bauunternehmern. Wir waren in der „Chinatown“ – das ist ein Gebäude, ähnlich wie die amerikanischen Chinatowns, mit etwa zehn Kneipen unter einem Dach. Alle sind im alten Stil eingerichtet, als Bank, Pfandhaus, Apotheke, Schmiede, wie eine kleine, alte chinesische Stadt. Aber der Verkauf in dieser „Chinatown“ ist total modern organisiert. Du sammelst deine Getränke mit einem Korb selbst zusammen, zahlst an der Kasse und gehst dann mit den Getränken in die KTV-Boxen, die du vorher buchen musst. KTV ist Karaoke. Da triffst du dich mit deinen Freunden und kannst Lieder singen. Du kannst auch gegen Bezahlung junge Mädchen und Jungen zum Mitsingen und Trinken und mehr bestellen. Die Preise sind okay. Zwanzig Yuan (2,5 Euro) pro Getränk. Die Bude kostet hundert (12,5 Euro) pro Stunde. Anderswo kostet es das Doppelte.

Hao Xiao, 19, Student: Ich war wie meistens in meiner Lieblingsbar. Leider kann ich nicht sagen, wie die heißt und wo die ist, sonst würde die bestimmt sofort geschlossen. Es ist eigentlich eine finstere Fachwerkspelunke, winzig klein, wo sich versprengte Alternative treffen. In einem der wenigen Altbauviertel, die es noch gibt. Wir trinken immer ziemlich viel dunkles Bier. Vorigen Samstag brachte ein Freund einen Freund mit, der uns alle davon zu überzeugen versuchte, dass Tibet eigentlich noch nie zu China gehört hat.

Cai Lan, 31, Bistrobesitzerin: Vorigen Samstag? Bei uns ist sowieso jeder Tag gleich. Ich komme vom Land und habe in Peking sechs Jahre lang als Kellnerin gearbeitet. Dann hatte ich genug Geld gespart, um ein eigenes Bistro aufzumachen. Bei uns gibt es Hausmannskost, Dampfnudeln und so weiter. Mein Mann, unsere elfjährige Tochter und ich leben zusammen in einem sechs Quadratmeter großen Lagerraum ohne Fenster. Aber wir sind jeden Tag froh darüber, der Armut des Landlebens entkommen zu sein. Gerade ist es ja kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest, da sind alle meine Angestellten nach Hause gefahren. Deswegen hilft mir meine Tochter im Geschäft. Den Kunden gefällt das gut. Und ihr auch.

Sun Yu, 42, Theaterkritiker: Ich habe gerade Besuch von einer italienischen Performancekünstlerin. Sie wollte unbedingt einmal ein chinesisches Bordell von innen sehen. Ich weiß nicht genau, ob sie schockiert oder fasziniert war, jedenfalls hat sie seit der „Besichtigung“ alle möglichen Theorien über die Unterschiede des Sexuallebens von China und dem Westen entwickelt. Die Räume waren wie üblich nicht dekoriert und nur mit Neonlicht ausgestattet. Die Damen im Bordell wussten natürlich nicht mit der Situation umzugehen. Mit Geld haben wir versucht, die Peinlichkeit in Grenzen zuhalten. Was auch gelang.

Wang Li, 26, Schriftstellerin: Ich war auf einer Party. Ich kenne mehrere Akademiker, wir treffen uns immer am Wochenende. Wir sind Ethnologen, Politologen, Ökonomen, Journalisten, Religionswissenschaftler, aber auch Immobilienmakler und sogar ein Soldat. Es ist so eine Art Salon. Wenn wir uns treffen, erzählt mal der eine, mal die andere etwas von der Arbeit, dem Fachgebiet. Dann diskutieren wir lebhaft. Gestern sind wir auf ein Thema gekommen, das jeden von uns betrifft: die Landarbeiter. Genauer gesagt ging es um die Mädchen, die unsere Wohnungen putzen und für uns kochen, und um die Männer, die unsere neuen Wohnungen renovieren. Der einer sagte, man müsse die Leute vom Lande fair behandeln, ihnen eine Schule einrichten und ihnen die Zivilisation beibringen, sie integrieren. Die andern meinten, das sei eine arrogante Haltung. Wir sind ziemlich aneinander geraten. Aber eigentlich gefällt mir genau das an unserem Salon.

Jia Liu, 36, Filmemacher: Ich habe mir gerade den neuen Gedichtband von Liang Jun gekauft, „Der Lärm aus dem Herzen“. Das ganze Wochenende habe ich darin gelesen.

ZHANG XUDONG, 27, ist Übersetzer in Berlin