Prekäres Leben zwischen Ruinen

Besuch auf dem „Ikeja Military Cantonment“, dem Militärgelände in Nigerias größter Stadt Lagos, dessen Explosion vor zwei Wochen eine Massenpanik mit tausend Toten verursachte. Es ist eine Stadt in der Stadt, in der viele Gebäude nicht mehr stehen

aus Lagos HAKEEM JIMO

Noch immer ziehen Soldaten umher und suchen nach Bombensplittern und Blindgängern. Sie tragen weiße Plastiklanzen, um verdächtige Gegenstände zu berühren. Zwei Kinder sollen dazu ihre Füße benutzt haben und wurden im nächsten Augenblick zerfetzt, erzählen Anwohner der Kaserne.

Einige hundert Metern um das Explosionszentrum herum steigt noch immer der schweflige Geruch nach entzündetem Sprengstoff in die Nase. Das „Ikeja Military Cantonment“, das am Abend des 27. Januar in die Luft flog, ist viel mehr als eine Kaserne. Es ist eine Stadt in der Stadt und erstreckt sich über vier Quadratkilometer inmitten der Millionenstadt Lagos. Es gibt darin nicht nur Baracken und militärische Einrichtungen, sondern sogar Schulen, einen Markt, Verwaltungsgebäude, Kirchen, Moscheen. Und bis vor zwei Wochen gab es auch das Munitionslager – eines der größten des Landes. Von hier aus wurden die Waffenlager ganz Nigerias versorgt. Wie viele Menschen hier lebten, kann keiner mit Bestimmtheit sagen. Aber es dürften mehrere zehntausend gewesen sein.

Doch auf dem Gelände selbst forderte die Explosion verhältnismäßig wenige Opfer, wahrscheinlich weniger als ein Dutzend. Es waren die angrenzenden Wohngebiete, aus denen die Leute in Panik strömten, um der Explosion zu entkommen, wobei tausend Menschen zu Tode kamen. Vor allem Kinder ertranken in einem Kanal, als sie vor den ohrenbetäubenden Explosionen, den Druckwellen und dem Flammeninferno wegrannten. Eine für Donnerstag vorgesehene Massenbeisetzung dieser Opfer wurde kurzfristig vertagt, um den Angehörigen die Gelegenheit zu geben, die Leichen zu identifizieren und abzuholen.

Shola Adebayo ist einer der Bewohner des Militärgeländes. Er ist Cousin eines Gefreiten. Eigentlich dürfte Adebayo gar nicht auf dem Kasernengelände leben. Denn abgesehen von der Lebensgefährtin und den Kindern eines Militärangehörigen darf kein hier wohnender Verwandter über 18 Jahre alt sei, und Adebayo ist Mitte dreißig. Aber in der Praxis existiert ein unüberschaubares Geflecht von Wohnverhältnissen, das selbst Offiziere nicht auflösen können. Alleine lebt keiner in Afrika, erst recht nicht in einer Stadt mit chronischem Wohnungsmangel wie Lagos. Davon kann sich auch das Militär nicht frei machen.

Adebayo verdient sein Geld mit einem Motorradtaxi und führt nun seine Passagiere innerhalb des zerstörten Geländes herum. Er wohnt mit sieben anderen Verwandten in einer Zweizimmerwohnung in einem viergeschossigen Haus mit rund fünfzig Wohnungen. Von diesen Blocks soll es hier über zweihundert geben.

Die Wohnung von Adebayo hat das Bombeninferno überstanden. Der Wohnzimmerschrank und mit ihm die elektronischen Geräte kippten um, erzählt Adebayo. Der Dachstuhl brach teilweise ein. Die meisten Fenster blieben jedoch heil.

Aber schon einige hundert Meter weiter sehen die Wohnblocks nicht mehr bewohnbar aus, obwohl das eigentliche Explosionszentrum noch immer 500 Meter entfernt ist. Fenster und Türen sind notdürftig mit Brettern zugenagelt; das hält keine Moskitos mehr ab. Einige Häuser wurden von den Explosionen in Brand gesteckt. Die, die noch stehen, haben Risse im Gemäuer und sind baufällig. Die Dächer knickten unter den Druckwellen ein. Die Hälfte der Häuser des Markts auf dem Gelände sind eingestürzt. Überall stehen Möbel vor den Ruinen.

Viele Leute, die bisher im „Ikeja Military Cantonment“ wohnten, sind erst einmal weggezogen. Aber wie so oft nach einer Krise kommt das Leben schnell wieder in den üblichen Rhythmus. Marktleute, die keine Läden mehr haben, zimmern sich einen Holzstand zusammen. In einer Ecke verfolgt eine Traube von jungen Männern das Halbfinale im Afrika-Cup Nigeria gegen Senegal. Das bringt aber wegen Nigerias Niederlage und seines Ausscheidens aus der Afrika-Meisterschaft auch keine Freude, höchstens Ablenkung. Denn man fragt sich hier, wie viel Spannung die nigerianische Gesellschaft nach den unzähligen Krisen seit Einführung der Demokratie vor drei Jahren eigentlich noch ertragen kann.