: Bild mit Goldrand
Coline Serreau braucht in „Chaos“ (Panorama) wenige Minuten, um das System zu erschüttern. Ihre Frauen brechen aus, und dann wird alles gut
von BIRGIT GLOMBITZA
Eine Einladung zum Abendessen. Es wird Zeit. Jeder weiß, was er zu tun hat. Sie (Catherine Frot) steckt noch schnell eine lose Haarsträhne zurück. Er (Vincent Lindon) fährt sich vorm Spiegel über die Haareund steckt den Haustürschlüssel ein. Sie knipst das Licht aus.
Im Auto gibt er noch mehr Gas. Bis eine Frau ihnen vor den Kühler rennt. Sie schreit. Sie ist verletzt. Sie rüttelt an der hastig von innen verriegelten Fahrertür. Vier Männer sind hinter ihr her, holen sie ein, schlagen ihren Kopf gegen die Windschutzscheibe, reißen sie zu Boden, treten zu, bis sie nicht mehr schreit, und rennen weg. Dann fällt der erste Satz und reißt Löcher in die Stille zwischen Mann und Frau. „Gib mir die Taschentücher“, sagt er. Er wischt das Blut von der Scheibe. Sie fahren weiter. Die Monotonie der Betriebsamkeit hat ihn bald wieder. Nur seine Frau kann nicht mehr zurück. Sie wird ein neues Leben beginnen.
Von Anfängen versteht Coline Serreau eine Menge. Die Regisseurin, die mit ihrer Yuppie-Groteske „Drei Männer und ein Baby“ Hollywood die Vorlage für unsägliche Cover-Versionen lieferte, ist eine Virtuosin des Auftakts. Sie hetzt ihr Ensemble durch Paris, vom Zentrum bis zur Peripherie, von der Cocktail-Party bis zum Straßenstrich. Die Kamera bleibt ihnen dabei wie eine engagierte Gesellschaftsreporterin auf den Fersen. Hier soll alles wie ein Ereignis aussehen. Einmalig und unwiderruflich. Eben wie aus dem Nichts oder, wie Serreau selbst bei jeder Nachfrage betont, „dem ganz normalen Leben“ entsprungen und doch mit der anarchischen Potenz eines ausgemachten Untergangs. In Serreaus kurzatmigen Wechseln aus Chaos und Seufzen, Alltag und Ausnahmezustand, Festen und Katastrophen gehen Welten zu Bruch. Und meistens sind es die Frauen, die am Ende begreifen, was überhaupt passiert ist.
Serreau braucht nur ein paar Minuten für Erschütterungen des Systems. Ob das der Ehe oder das des mittelständischen Pragmatismus. Noch während Hélène mit ihrem Gatten in der Autowaschstraße zusieht, wie die Spuren des Unerhörten weggespült werden, weiß sie, dass sie im falschen Leben fest sitzt. Sie besucht die zusammengeschlagene Noémie, eine Hure algerischer Abstammung, im Krankenhaus. Hélène ist dabei, als Noémie (Rachida Brakni) aus dem Koma erwacht, wieder gehen und sprechen lernt und auch als die Männer wieder auftauchen, die sie in die Bewusstlosigkeit geprügelt haben. Sie erfährt Noémies Geschichte. Vom Vater, der das Mädchen verkaufte, von den Zuhältern, die sie vergewaltigten und zum Yunkie machten.
Doch als Hélène gerade ausziehen will, um als tapfere Sinnsoldatin alles wieder gutzumachen, nimmt das Drehbuch ihr ihre Geschichte einfach weg. Die Regisseurin wechselt die Heldinnen: Statt Hélène weiter bei ihren beherzten Aufbruchsarbeiten zu beobachten, verfolgen wir, wie die schöne Exotin Noémie dem anderen Geschlecht eine Lektion in Sachen Rassismus, Sexismus und überhaupt erteilt. Noémie führt den Sohn zur Mutter, den Gatten zur Reue und die eigene Schwester in die Freiheit. Es wird ernst. Im ruhigen Fokus strahlt ein schlichter Feminismus, einer der Rührung und der naiven Zuversicht. Am Ende sehen wir Hélène, Noémie, Hélènes Schwiegermutter und Noémies Schwester auf einer Bank im Grünen sitzen und bei einem allzu obligatorischen Eric-Satie-Stück in ihre Zukunft ohne Väter, Gatten und Zuhälter lauschen. Bis das Schlussbild die Frauen für die Ewigkeit einfriert. So viel Goldrand muss sein.
„Chaos“. Regie: Coline Serreau. Frankreich 2001, 106 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen