Es lohnt sich, zu täuschen

Anlegerschutz ist auch Arbeitsmarktpolitik: Das wirtschaftliche Wachstum wäre programmiert. Die unseriösen Unternehmer müssen vom Markt. Das Geld fließt dann wieder zurück an die Anleger

Klaus Rotter (35) ist Spezialanwalt. In seiner Kanzlei arbeiten sechs Anwälte ausschließlich für Wertpapieranleger.

taz: Die Partystimmung bei den Anlegern ist vorbei. Sie machen jetzt den Dreck weg. Was finden Sie denn so in den Scherbenhaufen des Neuen Marktes?

Klaus Rotter: Man findet zum Beispiel Täuschungen beim Börsengang und Kursmanipulationen – Unternehmen haben an allen Ecken gedreht, an denen man drehen konnte. Da wurden Unternehmen, die nichts wert waren, zum Teil mit Hilfe von Wirtschaftsprüfern hoch bewertet. Beispiel Infomatec: Fünf Gesellschaften wurden als Sacheinlage in die AG eingebracht und damit auf 200 Millionen Mark bewertet; wahrscheinlich deshalb, weil die WestLB den Börsengang unter 200 Millionen nicht begleitet hätte. Ein unabhängiger Sachverständiger hat nun gesagt, zwei der fünf Unternehmen waren konkursreif, der Wert läge bei wohlwollender Betrachtung bei etwa 50 Millionen Mark, bei objektiver Betrachtung bei fünf Millionen Mark.

Ist so eine Manipulation beim Börsengang ein Einzelfall?

Nein, es ist eine Fallgruppe. Die zweite Fallgruppe betrifft das Verhalten der Vorstände, während das Unternehmen am Markt ist: Es wurden fehlerhafte Meldungen verbreitet, man schloss unverbindliche Rahmenvereinbarungen und kommunizierte sie als verbindlichen Großauftrag. Man spiegelte hier den Anlegern etwas vor, was nicht existierte. Kurz: Man hat das Blaue vom Himmel versprochen, und die Anleger haben auf diese Meldungen vertraut – und damit Milliarden verloren.

Wann sprechen Sie von „Betrug“ am Anleger?

Anleger fühlen sich betrogen, wenn sie getäuscht werden. Ein Anleger fühlt sich nicht betrogen, wenn das wirtschaftliche Risiko zur Realität wird. Wer bei Siemens oder DaimlerChrysler einsteigt, und der Kurs fällt um die Hälfte, kommt nicht darauf, den Kursverlust einzuklagen.

Anders sieht es aus, wenn ein Anleger die Information bekommt, es gäbe einen Auftrag, und tatsächlich gibt es ihn gar nicht; wenn ihm Ende November 2000 versprochen wird, wie bei EM.TV, das Unternehmen erziele definitiv einen Gewinn von 500 Millionen, und tatsächlich wird es ein Verlust von 2,8 Milliarden, dann ist das natürlich keine Prognose mehr, denn im November ist das Jahr fast vorbei.

Der Anleger fühlt sich also betrogen, wenn er durch haltlose Äußerungen getäuscht oder bewusst hintergangen wird. Nur solche Fälle vertreten wir.

Beim Sparbrief ist die Rendite eindeutig. Wer in Aktien investiert, weiß, dass er seine Investition verwettet. Ist die Grenze zwischen „Betrug“ durch eine AG und der Dummheit von Anlegern immer trennscharf?

Ja, die Anleger sind sehr wohl bereit, wie auch bei den großen DAX-Unternehmen, Kursverluste von 50, 60 Prozent hinzunehmen, wenn dies auf dem wirtschaftlichen Risiko basiert. Nur kann kein Anleger das Risiko von Täuschungen hinnehmen. Das nimmt auch im sonstigen Geschäftsleben niemand hin.

In England und den USA haben wir ganz klare Schadenersatznormen: Wenn ein Anleger fahrlässig getäuscht wird, bekommt er Schadenersatz. Ein Anleger hat einen Anspruch darauf, zu dem Zeitpunkt, wo er in Aktien investiert, ordnungsgemäß informiert zu werden. Ich verlange nicht von den Vorständen, dass sie zwei Jahren im Voraus Gewinne vorhersehen. Aber ich verlange, dass das, was sie sagen, korrekt ist. Und das wird in allen Kapitalmärkten der Welt und allen Berufsgruppen gefordert – und alle haften schon für Fahrlässigkeit. Davon kann man Vorstände nicht ausnehmen.

Sie monieren eine „unzureichende Gesetzeslage“. Was fehlt?

Zum einen fehlt eine zentrale Schadenersatzregel, die besagt: Wenn ein Anleger fahrlässig getäuscht wird, muss er Schadenersatz bekommen. Das Finanzmarktförderungsgesetz, das im Frühjahr kommt, sieht nur eine Schadenersatzpflicht bei grob fahrlässigen Ad-hoc-Meldungen vor. Das heißt: Wenn ein Vorstand im Fernsehen oder bei Veranstaltungen etwas Falsches sagt, bleibt das ohne Sanktion. Das kann nicht sein.

Wann macht man sich heute schadenersatzpflichtig?

Wenn man einen anderen in sittenwidriger Weise vorsätzlich schädigt. Deshalb bekommt man heute nur Schadenersatz, wenn der Vorstand einen Aktionär entweder bewusst täuscht oder er leichtfertig ins Blaue hinein falsche Behauptungen aufstellt und dadurch die Schädigung in Kauf nimmt. Dieses materielle Recht ist aber nur ein Teil.

Was brauchen wir Ihrer Ansicht nach außerdem?

Der zweite Aspekt betrifft das prozessuale Recht. Eine Bündelung von Ansprüchen ist kaum möglich. Der Schädiger in Deutschland muss nie befürchten, den gesamten Schaden zurückzahlen zu müssen. Wenn 5.000 Aktionären geschädigt werden und jeder im Schnitt 5.000 Mark verloren hat, können Sie davon ausgehen, dass der Großteil den Verlust auf Grund des hohen Prozesskostenrisikos abschreibt. Nur durch Musterprozesse kann dies teilweise durchbrochen werden.

Da lohnt es sich, zu täuschen.

Ja, denn selbst wenn es dumm läuft, muss der Schädiger vielleicht ein paar Millionen zurückzahlen. Aber die 100 Millionen, die er insgesamt vielleicht eingesammelt hat, nimmt ihm kein Mensch mehr weg. Hier brauchen wir ein Korrelat. In den USA ist es die Class Action: Eine gesamte geschädigte Gruppe kann klagen. Das haben wir nicht.

Wie lange, schätzen Sie, wird es dauern, bis eine Reform des Schadenersatzrechtes in Aussicht ist?

Das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz wird wohl in den nächsten Monaten verabschiedet. Da haben wir dann eine Schadenersatzpflicht bei grob fahrlässigen Ad-hoc-Meldungen. Das ist ein großer Schritt. Entscheidend ist, dass die maßgeblichen Köpfe in der Politik kapieren, welch großer volkswirtschaftliche Nutzen mit einem strengen Anlegerschutz verbunden ist.

Manche meinen, Anlegerschutz schade dem Unternehmertum.

Das ist Quatsch. Wenn dieses eine Prozent an unseriösen und unsozialen Unternehmern vom Markt geht, weil sie dem Anleger nicht mehr alles ungestraft verkaufen können, dann ist das gut! Denn das Geld geht dann an den Anleger zurück. Und der gibt es dem nächsten, dem seriösen Unternehmen.

Es sind Dutzende seriöser Unternehmen in den Konkurs gegangen, die auf den Börsengang schon vorbereitet waren. Sie haben das Geld der Anleger nicht bekommen, die sich zurzeit von allen getäuscht fühlen. Die kriminellen Vorstände müssen vom Markt, das Geld muss zurück und dann wieder in den Kapitalmarkt investiert werden. Nur das bringt die Volkswirtschaft voran.

Hat die wirtschaftliche Misere in Deutschland also auch mit dem Rückzug der Investoren vom Neuen Markt zu tun?

Ja, denn es gibt viele seriöse Unternehmen, die an die Börse gehen wollen. Aber die bekommen kein Geld. Die Investoren sind misstrauisch und verschreckt. Denn selbst wenn ein Vorstand lügt, bekommt der Anleger sein Geld nicht zurück. Das ist ein immenser Schaden, und daran werden wir noch jahrelang zu knapsen haben. Ein Pensionsfonds der USA wird auf Grund dieser Gesetzeslage nie wieder in Deutschland in den Neuen Markt investieren.

Ist also Anlegerschutz auch Arbeitsmarktpolitik?

Man sollte in diesem Sinne mal eine volkswirtschaftliche Studie anfertigen. Ich denke, wenn wir einen so guten Anlegerschutz hätten wie in den USA, gäbe es ein paar hunderttausend Arbeitsplätze mehr. Wenn Anleger gerecht behandelt werden, investieren sie in Unternehmen, die gute Aussichten auf wirtschaftlichen Erfolg haben – und die seriös arbeiten und informieren.

INTERVIEW: ANDREAS LOHSE