Das Idol

Ja, Milošević hat noch Anhänger in Serbien. Sie sehen ihn als „Opfer der neuen Weltordnung“

„Kriegsverbrecher gehören bestraft. Milošević ist keiner“, sagt der Abgeordnete

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Flugbätter mit der Überschrift „Freiheit für Slobodan! Freiheit für Serbien!“ bedecken am Samstag das Zentrum Belgrads: Die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) ruft zu einem „großen Volksprotest“ gegen das „so genannte“ Haager Tribunal für Kriegsverbrechen auf. Bei mildem, sonnigen Frühlingswetter versammeln sich am Samstag einige Tausend Anhänger von Slobodan Milošević am Platz der Republik. Es sind vorwiegend ältere, bescheiden gekleidete Menschen. „Slobos treuer Rentnerklub“, bemerkt ironisch ein Student. Am Rande der Kundgebung stehen einige ehemalige Minister des Milošević-Regimes mit ihren Leibwächtern.

Aus den Lautsprächern dröhnen patriotische Volkslieder. „Niemand kann das Kosovo aus meiner Seele reißen“ singen getragen im Chor die bejahrten Demonstranten, einige tanzen im langsamen Rhythmus der Musik. Ihre Mienen sind ernst, die Stimmung ist feierlich. Sie sind gekommen um ihrem geliebten „Slobo“, ihrem Volkstribun, der sich für die Serben und das Serbentum geopfert haben soll, noch einmal die Treue zu schwören. Die SPS-Jugend sorgt für Ordnung bei der Demo, auf ihren knallroten T-Shirts steht „Gott verzeiht, wir jedoch nicht“. Für die Demonstranten ist Milošević ein Märtyrer und die neuen Machthaber, die ihn an das Messer des „Aggressors“ geliefert haben, sind „schäbige Verräter“ und „Nato-Söldner“.

Mit Tränen in den Augen hört eine Frau der Aufzeichnung einer von Milošević’ Reden vor dem Haager Tribunal zu: „Ich fordere, in die Freiheit entlassen zu werden … Nicht die Serben, sondern die Nato hat Verbrechen begangen …“ Als der junge SPS-Funktionär Ivica Dačić auf die Bühne tritt und donnert: „Nicht Slobodan Milošević, sondern das ganze serbische Volk sitzt in Haag auf der Anklagebank!“, schreit die Masse frenetisch: „Slobo! Slobo!“

Auch viele Menschen aus der Provinzstadt Beočin bei Novi Sad in der Vojvodina wohnten der Volkskundgebung in Belgrad bei. Über 1.000 Anhänger von Milo- šević wollten organisiert reisen, erfährt man im Rathaus, doch kein einziger Reiseveranstalter soll gewagt haben, ihnen einen Bus zu vermieten: aus Angst, die Wut der neuen Machthaber in Serbien auf sich zu ziehen.

Das verschlafene Beočin liegt inmitten der idyllischen Landschaft der Fruška Gora. Die grundlegende politische Wende in Serbien 1999 scheint dieses Städtchen umgangen zu haben: Es gehört immer noch zu den reichsten Gemeinden in Serbien und die Milošević-Sozialisten halten die lokale Macht fest in ihren Händen. Allerdings zieren jetzt Kunstwerke, statt der Fotos des großen Volksführers, die Wände des Rathauses.

„Auch hier war nach dem Sturz unseres Regimes der in ganz Serbien gegen die Sozialisten verbreitete Hass zu spüren“, beklagt sich Bürgermeister Dimitrije Kovačević. Diese Feindseligkeit sei ja nicht zu fassen gewesen, stelle sich das einer nur vor, man wollte ihnen gar den Zugang ins Parlament verbieten! Allerdings gewannen Miločević-Sozialisten in Beočin nach der Wende überzeugender denn je die Kommunalwahlen. Für das Fiasko auf der Landesebene macht der Bürgermeister die nach zehn Jahren an der Macht „überheblich gewordene, zentralisierte und bürokratisierte“ Parteispitze verantwortlich. Die SPS-Führung habe den Kontakt zur Basis verloren, sie hätte mehr auf das Volk hören müssen. Um Milošević hätten sich lauter „Karrieristen“ gedrängt, die ihn letztendlich ins Verderben getrieben hätten. Vor allem sei jedoch der Einfluss seiner Gemahlin Mira Marković „vernichtend“ gewesen.

Die Menschen in Beočin können den im Volksaufstand eskalierten Hass gegen das frühere Regime und Slobodan Milošević überhaupt nicht verstehen. Man habe doch lediglich Serbien und die serbischen nationalen Interessen verteidigt, ist die in dieser Region allgemein verbreitete Meinung. Milošević habe das serbische Volk in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo beschützt, deshalb musste er bestraft weden. Er sei ein „Opfer der neuen Weltordnung“.

„Niemand kann das Kosovo aus meiner Seele reißen“, singen die Demonstranten

„Alle Kriegsverbrecher sollen bestraft werden. Slobodan Milošević ist jedoch kein Verbrecher“, sagt Stevan Gudurić, SPS-Abgeordneter im Landesparlament. Im Gegensatz zu Kroatien, das ethnisch von Serben gesäubert worden ist, sei Serbien während dieses „schlimmen“ Jahrzehnts die ganze Zeit über multiethnisch geblieben. Nur eine geringe Anzahl der rund 30 Prozent Angehörigen der nationalen Minderheiten sei während des Regimes Milošević aus Serbien geflüchtet.

Natürlich sei die SPS nicht „sündenlos“ und deshalb hätte ihr das Volk auch am 5. Oktober 1999 die „rote Karte“ erteilt. Doch kein normaler Mensch in Serbien würde glauben, dass Milošević wegen Kriegsverbrechen in Den Haag der Prozess gemacht werde, meint Guduric. Dieser „politische Prozess“ soll die Staatengemeinschaft „nach all ihren Fehlentscheidungen“ auf dem Balkan und die Nato nach der „Zerstörung“ Serbiens vor den Augen der Weltöffentlichkeit reinwaschen. In serbischen Geschichtbüchern würde Milošević wahrscheinlich seinen Platz als Volksheld finden.

Noch als Slobodan Milošević 1995 das Abkommen von Dayton unterzeichnete, das Bosnien den Frieden brachte, bezeichnete man ihn im Westen als einen „unumgänglichen Faktor des Friedens“. Die damalige Opposition, die heute in Serbien an der Macht ist, warf Milošević vor, die Serben in Kroatien und die Führung der bosnischen Serben kampflos im Stich gelassen zu haben. Man warf ihm vor, nicht rechtzeitig den Ausnahmezustand im Kosovo ausgerufen und die serbischen nationalen Interessen verraten zu haben. Das Regime Milošević ist wegen der immer stärkeren Repression in Serbien, wegen des „kleptokratischen“ Machtsystems, wegen den würgenden internationalen Sanktionen und der riesigen sozialen Not gestürzt, nicht wegen der Kriegsverbrechen, die unter ihm begangen worden sind. Letztendlich auch deshalb, weil die damalige Staatsspitze die Stimmung im Volk falsch einschätzte und den Sondereinheiten den Befehl zum Schießen auf das eigene Volk erteilte, zu einem Zeitpunkt, als dieser nicht mehr durchzusetzen war.

In Serbien sind die Meinungen geteilt, ob es richtig war, Milošević an das Haager Tribunal auszuliefern. Die serbische Regierung argumentiert pragmatisch: Die lebensnotwendige finanzielle Unterstützung und die Integration Serbiens in Europa werden von der Staatengemeinschaft von der Zusammenarbeit Belgrads mit dem Tribunal abhängig gemacht, also würde man die Angeklagten allmählich ausliefern. An Kriegsverbrechen denkt dabei kaum jemand.