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Sendeschluss für Antennenfreaks

Die Region Berlin-Brandenburg soll weltweit Fernsehgeschichte schreiben: Dem Antennen-TV wird der Strom abgedreht. Wer ab Herbst noch ohne Kabel glotzen will, benötigt einen Decoder fürs moderne Digital-TV. Der kostet bis zu 200 Euro

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Die Hauptstadtregion macht Ernst. Berlin, sonst eher Schlusslicht bei technischen Innovationen, will gemeinsam mit Brandenburg weltweit Vorreiter werden bei der Einführung des digitalen terrestrischen Fernsehens, kurz DVB-T genannt. Ab Oktober soll Kanal für Kanal von bisher analoger zu digitaler Funktion umgerüstet werden. Wer bislang noch Opa-TV über Zimmerantenne schaut, könnte spätestens im Sommer 2003 nur noch Schneetreiben auf der Mattscheibe sehen. Die Lieblings-Soap oder das Philosophische Quartett kann dann nur noch empfangen, wer sich ab Herbst einen Decoder zulegt. Das kleine Empfangskästchen soll, laut Versprechen der Industrie, zum Zeitpunkt der Einführung nicht mehr als 199 Euro kosten. In Ausnahmefällen wäre zusätzlich eine Bleistiftgroße Zimmerantenne erforderlich, heißt es bei der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB). Mindestens 20 deutschsprachige Programme, höchstens jedoch 26 werden dann in bester Qualität über den Bildschirm flimmern.

Der Umstieg ist eine gewaltige Aufgabe. MABB-Direktor Hans Hege nennt es den „komplexesten Prozess, den wir jemals gehabt haben“. Zur Vertragsunterzeichnung am heutigen Mittwoch haben sich sogar ARD-Chef Fritz Pleitgen, ZDF-Intendant Dieter Stolte und die wichtigsten Privat-TV-Oberen angekündigt.

Nach MABB-Schätzung sehen im Ballungsraum Berlin derzeit nur noch rund 6 bis 7 Prozent die Programme über Antenne, das sind aber immerhin noch rund 150.000 Haushalte. Hauptsächlich betroffen sind unsanierte Altbauquartiere in Kreuzberg und Wedding. Die Medienmanager der MABB vermuten, dass es sich bei den dort lebenden Antennennutzern überwiegend um Ältere, Ärmere und Wenigseher handelt. „Bei den Verhandlungen zur Einführung von DVB-T haben wir alle Interessengruppen berücksichtigt“, sagt MABB-Refernt Sascha Bakarinow. Er ist sich sicher, dass die neue Technik „wirklich verbraucherfreundlich ist“.

Grund seines Optimismus sind die Einsparmöglichkeiten des digital terrestrischen Betriebes. Der verschlingt im Gegensatz zum herkömmlichen Antennenbetrieb nur halb so viel Strom. Allein der ORB bezahlt für die terrestrische Versorgung der rund 180.000 Antennen-Haushalte jährlich rund 5 Millionen Euro Stromgebühren. So viel kostet auch ein Satellitentransponder, der allerdings europaweit Millionen Haushalte versorgen kann. DVB-T kann also helfen, so Bakarinow vorsichtig, die Rundfunkgebühren der kommenden Jahre auf dem jetzigen Niveau zu halten.

Der Zeitplan der Einführung hängt davon ab, ob zunächst die Decoder da sind, die Händler auf die neue Technik geschult wurden und die Regulierungsbehörde zustimmt. Proteste erwartet die MABB nicht, denn was die Versorgung der sozial schwachen Haushalte anbelangt, verweist sie auf das Sozialhilfegesetz. Demnach hat ein Sozialhifeempfänger Anrecht auf Fernsehempfang, notfalls würden die Decoder eben verschenkt, heißt es. Eine Lösung wird bis Herbst garantiert.

Technisch verläuft das Umrüsten kanalweise. Begonnen wird mit Kanal 44, auf dem bislang analog Pro 7 zu sehen ist. Auf den dann digitalisierten Kanal rutschen anschließend vier neue Programme, hier Sat.1, RTL, Pro7 und Vox. Erst im März 2003 folgen die öffentlich-rechtlichen Kanäle, die allerdings schon jetzt digital empfangbar sind. Obwohl es noch keine Erfahrungen gibt, wie sich die neue Technik flächendeckend verhält, sind die Medienmacher zuversichtlich. Aufgrund der flachen Topografie erwarte man in Norddeutschland keine Probleme. Schwieriger wird es für Thüringen und Bayern, doch die haben laut Gesetz noch bis 2010 Zeit zu üben.

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