Apolo 2002 vor der Zündung

Der ungebärdige Apolo Anton Ohno (19) will der große Star dieser Olympischen Spiele werden, den Medaillenhunger der Gastgeber stillen und bei den heute beginnenden Wettkämpfen im Short Track viermal ganz vorne landen. Mehr nicht

aus Salt Lake City MATTI LIESKE

Wenn heute die Wettbewerbe im Short Track starten, darf man getrost davon ausgehen, dass endlich auch die Öffentlichkeit in den USA von der Existenz dieser Sportart erfährt. Zwar ist das herdenmäßige Eisschnelllaufen mit der hohen Sturzfrequenz schon seit 1992 im Programm Olympias, das bedeutet jedoch nicht, dass NBC es für nötig befand, Bilder von dem wilden Kufengerenne in die Heimat zu übertragen. Jetzt ist das alles anders, denn die Mission Apolo hat begonnen. Der Short-Track-Star Apolo Anton Ohno soll der patriotischen Olympiabegeisterung weiteren nationalistischen Schub geben.

Bei den Sommerspielen in Sydney hatten nicht nur die erwartbaren Erfolge der Australier im Schwimmen, sondern vor allem zahlreiche überraschende Medaillengewinne in Sportarten, die zuvor kaum jemand kannte, in den ersten Tagen eine gewaltige Olympiaeuphorie entfacht. Eine vergleichbare Entwicklung fand in Salt Lake City bisher nicht statt. Während die favorisierten Snowboarder die Erwartungen erfüllten, blieben all die vorsichtig zu Medaillenkandidaten hochgejubelten Außenseiter in den traditionellen Wintersportarten, wie etwa der Kombinierer Todd Lodwick oder der Abfahrer Daron Rahlves, genau das, was sie vorher waren: chancenlose Außenseiter.

Also wird man sich lieber auf die sicheren Sachen verlassen – und keine Sache scheint sicherer als die von Apolo Ohno. Heute kann der 19-Jährige zwar noch kein Gold holen, aber in der Qualifikation über 1.000 m und im Halbfinale der 5.000-m-Staffel die Grundlagen für einen Siegeszug legen, der, wie die Amerikaner hoffen, an den von Eric Heiden in Lake Placid 1980 anknüpfen soll. Heiden gewann damals fünfmal Gold im Eisschnelllauf, vier Goldmedaillen scheinen im Short Track für Apolo Ohno reserviert. In allen drei Einzeldisziplinen gewann er letzte Saison den Weltcup, bei den Weltmeisterschaften holte er zweimal Gold, einmal Silber, in der Staffel kann er sich auf starke Partner verlassen – kein Zweifel, Apolo Ohno hat das Zeug, der große Superstar dieser Spiele zu werden.

Nicht, dass er bisher ein Aschenputteldasein geführt hätte. Mit seinen langen, meist von einem bunten Stirnband gebändigten Haaren, seinem Grunge-Bärtchen, dem Diamanten im Ohr und einem Auftreten, wie es so cool sonst eigentlich nur die Snowboarder hinbekommen, ist der Jüngling japanischer Abstammung ein gefundenes Fressen für die Marketingstrategen. Ohnos geschäftliche Interessen vertritt die mächtige IMG, er besitzt einen dicken Vertrag mit Nike, bei den Talkshows auf NBC ist er gern gesehener Gast. Das Problem war bisher der geringe Bekanntheitsgrad seiner Sportart. Das soll sich mit Olympia ändern, zumal Short Track den Amerikanern eigentlich gefallen müsste, erinnert es doch an das beliebte Roller Derby, nur dass Bodychecks bei der eisigen Variante nicht erlaubt sind.

Eigentlich hätte Ohno bereits 1998 in Nagano Triumphe feiern sollen, nachdem er schon 1997 mit 14 Jahren US-Meister geworden war. Er kam jedoch übergewichtig zu den Ausscheidungen und konnte sich überraschend nicht für das Team qualifizieren. Danach setzte ihn sein Vater eine Woche lang allein in einer Hütte ohne Telefon und Fernsehen in der Nähe seiner Heimatstadt Seattle ab, Apolo absolvierte Strandläufe im strömenden Regen, ging in sich und beschloss, die Sache fortan ernsthaft zu betreiben. „Es war ein harter Sturz. Es hat ihn fast zerstört“, sagt Vater Yuki, der großen Anteil hatte an der sportlichen Entwicklung seines Sohnes, den er allein aufzog. Dafür gab er sein Dasein als jetsettender Hairstylist auf, der in Paris oder London Models frisierte. Um den ungebärdigen Sohn zu beschäftigen, meldete ihn Yuki Ohno für diverse Sportarten, darunter Inline-Skating, an, konnte aber nicht verhindern, dass Apolo früh in die zweifelhafte Gesellschaft von Gangmitgliedern geriet.

Bei einer Übertragung von den Winterspielen in Lillehammer 1994, die Vater und Sohn gemeinsam sahen, lernten sie Short Track kennen. Apolo stieg um. Bald wollte ihn das nationale Trainingszentrum in Lake Placid haben. Doch der 14-Jährige hatte keine Lust. Nachdem ihn sein Vater am Flughafen abgesetzt hatte, rief er einen Freund an und blieb eine Woche lang verschwunden. Schließlich konnte ihn der Vater doch noch überreden, flog diesmal aber vorsichtshalber nach Lake Placid mit.

Nach den verpassten Spielen von 1998 begann Apolo Ohno endlich konsequent, an seinen Stärken zu feilen: Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und vor allem das schnelle Erfassen von Rennsituationen. Ohno ist ein Meister darin, während des rasanten, turbulenten und verwirrenden Rennens Lücken zu erkennen und für sich zu nutzen. „Er ist ziemlich unschlagbar, wenn er sich konzentriert“, sagt Trainerin Sue Ellis.

Das war offenbar nicht der Fall, als er im letzten Rennen der Trials für Salt Lake City nur Dritter wurde. Zuvor hatte er alles gewonnen und war längst qualifiziert, doch die Niederlage ermöglichte seinem besten Freund Shani Davis, den letzten Platz im Team zu ergattern. Ein unterlegener Läufer klagte wegen Schiebung und Ohno drohte kurzzeitig das Olympiaaus. Ein Schiedsgericht urteilte jedoch, ein Betrug sei nicht nachzuweisen, und ebnete endgültig den Weg für die Mission Apolo, die heute ihren Anfang nimmt.