Panoptikum der Wahrnehmung

Debüts und Premieren beim 1. Iberoamerikanischen Filmfest im Abaton  ■ Von Jakob Hesler

In letzter Zeit feiert das spanischsprachige Kino einen internationalen Erfolg nach dem anderen. Vermutlich ist es kein Zufall, dass dabei gerade junge Filmemacher mit weltmarkttauglichem Handwerk und ausgefeilten Drehbüchern Furore machen. Alejandro Amenábars The Others hat in den USA groß abgeräumt, prompt wurde sein älterer Film Abre los ochos (Open Your Eyes) mit der Ehre eines Hollywood-Remakes bedacht. Kurz zuvor hatte Amores perros von Alejandro Inárritu mit Gewalt, Tempo und Tiefsinn das deutsche Feuilleton in Begeisterung versetzt – trotz einer guten Portion kalter Mechanik.

Doch es geht auch ohne Anpassung an den globalisierten Geschmack. Das lässt sich jetzt im Abaton anhand etlicher (Ham-burg-)Premieren neuer hispanischer Produktionen nachprüfen. Darunter Lucrecia Martels eigensinniger Debütfilm La ciénaga (Der Morast). Wo Amores perros mit Drehbucharithmetik triumphiert, beginnt die Argentinierin mit vermeintlich einfacherem: dem Beobachten und Zeigen – mit bewegten Bildern.

Eine Gruppe apathischer Mitfünfziger fläzt sich an einem schmutzigen Swimmingpool vor einem heruntergekommenen Landhaus. Grillen zirpen. Von fern rollt der Donner. Man steht auf, um dem Regen auszuweichen, Orangenhaut und Bierbäuche schlurfen durchs verkantete Bild, Gartenstühle scharren auf dem Beton, Eiswürfel klirren in den Weingläsern. Mecha, die Dame des Hauses, stürzt. Sie liegt in einer Blutlache, keiner hilft ihr. Alle sind heillos betrunken.

Ist das ein Bild der argentinischen Gesellschaft? Von deren Problemen war viel zu hören in letzter Zeit. Doch man sollte La ciénaga nicht einseitig auf die politische Lesart festlegen. Ökonomische Bedingungen werden zwar ständig gestreift, aber kaum erklärt. Erklärt wird hier eigentlich gar nichts. Erst allmählich schält sich die Konstellation heraus: Zwei Zweige einer Familie verbringen gemeinsam schwüle Ferienwochen in den Bergen. Die Koordinaten der meisten Szenen sind dabei durch Frauen abgesteckt. Sie sind Mütter, Liebende, Untergebene. Ein Film aus weiblichem Blickwinkel – deshalb aber natürlich auch ein Film über Männer. Sie sind Clowns, liebevoll verständnislose Gatten, Lustobjekte.

La ciénaga hat keine lineare Handlung, ist aber auch kein Episodenfilm, sondern ein subtil verwobenes Panorama. Ein Panorama kommunikativer Situationen, solcher des Leerlaufs und solcher der Intensität. Ein Panorama bürgerlicher Lebenshaltungen, zentriert im sinnlos versoffenen Dasein von Mecha und ihrem Mann; arbeitsame Eingeheiratete setzen dabei zentrifugale Akzente. Ein Panorama aber vor allem der Generationen.

Aus dem Landhaus kommt die 15-jährige Momi gerannt, um ihrer verletzten Mutter zu helfen. Auch Momi wird nicht erklärt, sondern gezeigt. Die Welt dieser Pubertierenden ist vielschichtiger als die der Eltern mit ihren zerfallenden Charaktermasken. Momi hat noch keine. Sie schaut sich im Spiegel an. Ihr Begehren greift um sich und kann sich nicht ausdrücken. Momi gafft, ist verlegen, ist weise. Und auch böse. Aus ratloser Langeweile imitiert sie Mechas Rassismus und quält die von ihr eigentlich verehrte Isabel, das indianische Hausmädchen.

Eine andere Perspektive haben die Kinder. Zwischen Selbstgenügsamkeit und Staunen spielen sie ihr eigenes Spiel. Grell geschminkte Gören sprechen in einen Stehventilator und lauschen der merkwürdig verfremdeten eigenen Stimme. Sie schauen durch die Schrägung eines Lineals und sehen die Welt mit neutralem Interesse in grünlich prismatischen Brechungen.

La ciénaga besticht durch zurück genommene Konstruktion. Erst spät und eher beiläufig ergibt sich eine gewisse Dynamik der Hoffnung, und deren schließliches Scheitern wird nicht tragisch verbrämt. Zwar hat Regisseurin Martel all dem einige überdeutliche Leitmotive übergestülpt. Aber das kann die visuelle Kraft und atmosphärische Genauigkeit dieses Panoptikums der Wahrnehmung nicht trüben. Im Wettbewerb der letzten Berlinale blieb es bärenlos. Vielleicht sorgt Martel 2002 selber für mehr Gerechtigkeit: Diesmal sitzt sie mit in der Jury.

Dort wird sie auch über Piedras zu befinden haben, einen spanischen Erstling im diesjährigen Wettbewerb, der ebenfalls im Abaton zu sehen ist. Diese Woche weiter im Programm: Solveig Hoogesteijns Santera über eine spanische Ärztin, die in Venezuela über Frauengefängnisse forschen will; Tocá para mi von Rodrigo Fürth, in dem ein argentinischer Punkrocker seinen wahren Eltern nachspürt, und A guerra da luz, der neue – ebenfalls gerade auf der Berlinale zu sehende – Dokumentarfilm der Hamburgerin Monika Treut über die brasilianische Streetworkerin Yvonne Bezarra de Mello.

Santera : So, 13.15 Uhr; A guerra da luz (in Anwesenheit von Monika Treut und Yvonne Bezarra de Mello): So, 17 Uhr; La ciénaga : Mo, 19.30 Uhr; Tocá para mi : Mo, 21.45 Uhr + Mi, 17 Uhr, Abaton; die Reihe wird fortgesetzt (u.a. mit Y tu mamá también: 25.2., 20 Uhr)