Wie eine große WG

■ Helke Sanders hat mit „Dorf“ einen Dokumentarfilm über ihren wendländischen Wohnort gedreht. Die offene Sympathie für Dorftraditionen irritiert zuweilen

Früher konnte man von Kortenbeck aus direkt zum Grenzzaun gucken. Das kleine wendländische Dorf lag dort, wo sich in der DDR Fuchs und Hase „Gute Nacht“ gesagt haben. In diesem heute immer noch recht verschlafenen Örtchen hat sich die Filmemacherin Helke Sanders niedergelassen und sich ihrem neuen Zuhause inklusive dessen BewohnerInnen mit dem ihr eigenen Mittel, dem Dokumentarfilm, angenähert.

Die einstige Herausgeberin der Zeitschrift Frauen und Film erregte zuletzt 1992 mit der Dokumentation Freier und Befreite Aufsehen, in der sie Berliner Frauen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von Sowjetsoldaten vergewaltigt worden waren, porträtierte. Damals provozierte sie monatelange erhitzte Diskussionen über ihre Methode des teilnehmenden Filmens, die es an Distanz zu den Frauen habe fehlen lassen.

In Dorf lässt Sanders uns nun teilhaben an ihrem Prozess des Kennenlernens der sozialen Strukturen, der Bräuche, der Geschichte des Dorfes. Irgendwann hat Sanders festgestellt, dass sie in einer großen WG gelandet ist, wie sie uns schon am Anfang erläutert. Indem sie ihre emotionale Beteiligung offenlegt, macht sich die Regisseurin auch zum Objekt ihres Dokumentarfilms.

Behutsam und in einem der dörflichen Stille angemessenen, ruhigen Tempo begleitet der Film das Treiben der BewohnerInnen. Sie erläutern ihr Bepflanzungskonzept für den Garten und lassen sich beim Schlachten zugucken. Sie erzählen vom Aussterben der Landwirtschaft, von der Arbeitslosigkeit nach dem Ende der DDR, von „ihren“ Stasispitzeln, die eher harmlos gewesen seien. Der ehemalige Dorfheiler ist zwar recht zurückhaltend, als Sanders ihm nähere Details entlocken will. Doch ist er noch geradezu offenherzig im Vergleich zu dem jungen Mann mit den sehr kurzen Haaren, der auf die Frage nach rechten Einstellungen bei der Dorfjugend nur verlegen grinst.

Das Schweigen, das unkommentiert so stehen gelassen wird, hat natürlich wiederum etwas sehr Beredtes. Und doch stellt sich manchmal durch die Herangehensweise der Dokumentarfilmerin Skepsis ein. Zweifellos hat das jährlich stattfindende Dorffest eine wichtige soziale Funktion. Doch wenn selbst die grässlichste Schunkelmusik sympathisch rübergebracht wird, fragt man sich, ob die Einfühlung nicht zu weit geht. Dorf schrammt teilweise hart an der Idyllisierung vorbei. Zugleich macht der Verzicht auf emotionale Distanz die tieferen Einblicke in eine aus großstädtischer Sicht ungewohnt wirkende Lebensweise überhaupt erst möglich.

Ariane Dandorfer

Do, 20 Uhr, Lichtmeß (in Anwesenheit der Regisseurin)