„Raffi“ kann nur noch baff staunen

Die Eishockey-Frauen der USA zeigen zum Turnierauftakt, wo der Puck hingehört: ins gegnerische Tor. Die Deutschen schleichen mit 0:10 vom Eis

aus Salt Lake City MARTIN HÄGELE

Eigentlich mag Sara Decosta ihren Job gar nicht. Obwohl sie von vielen Menschen beneidet wird. Die 24-jährige Torfrau des US-Teams hat bereits in Nagano eine Goldmedaille gewonnen, und falls der Eismeister des E-Centers in Salt Lake City nicht von antiamerikanischen Kräften überfallen wird, die das Eis in seiner Halle abtauen, werden Sara und ihre Kolleginnen am 21. Februar erneut als Olympiasiegerinnen von der Medal Plaza in die Welt hinaus grüßen.

Von diesem, für jedes Sportlerherz ergreifenden Augenblick einmal abgesehen, würde Sara viel lieber das Eishockeytor von Deutschland, Finnland oder China bewachen. Einfach, weil man da auch zeigen kann, wie gut man ist im Puckfangen. Beim Auftaktmatch gegen die deutschen Frauen aber hat Sara Decosta wieder einmal gelitten, weil „es gerade, wenn man so hoch führt, schwer ist, sich richtig zu konzentrieren, und als Torfrau gehört man ja auch zur Mannschaft“. Und wie haben Sie sich zur Konzentration gezwungen?, wurde sie auf der Pressekonferenz gelöchert. Decosta darauf: „Indem ich viel mit meinen Kolleginnen geredet habe und unsere Angriffe im Kopf mitgefahren bin.“

Die Beschwerde der freundlichen Sara über fehlende berufliche Entfaltungsmöglichkeiten sagt alles aus über die Kräfteverhältnisse beim zweiten olympischen Eishockeyturnier der Frauen. Sie hätte unterm Spiel ruhig eine Cola trinken oder mit ihren Eltern plaudern können, was sonst nur am Telefon geht. Saras Gegenüber, Stephanie Wartosch-Kürten vom TV Kornwestheim, war nach halber Distanz schon dermaßen gestresst, dass Bundestrainer Rainer Nittel eine Auszeit verlangte und für den Rest der Partie Esther Thyssen die Obhut des Tores anvertraute. In der 55. Minute konnte allerdings auch die Nummer eins vom Grefrather EC nicht verhindern, dass der Puck zum zehnten Mal ins deutsche Netz flog – zum 10:0; dabei wollte man doch keinesfalls zweistellig verlieren.

Doch zwischen den netten Wünschen aus deutschen Landen und der rauen Wirklichkeit in Salt Lake City flitzten eben 18 Amerikanerinnen wie die Teufel übers Eis. Wenn da nicht Zöpfe oder Pferdeschwänze hinten aus den Helmen herausgucken würden, hätte man einige dieser Mädchen und Frauen durchaus für eine Auswahl talentierter Nachwuchscracks beim Vorspielen für NHL-Teams halten können, so professionell hantieren sie mit dem Puck, so geschickt setzen sie ihre Körper ein. „Wir brauchen uns wirklich nicht zu schämen: Die wollen ja Olympiasiegerinnen werden und nicht wir“, bat Raffaela Wolf um Verständnis.

„Raffi“, wie sie vom Hallensprecher genannt wurde, kann man das glauben. Die Studentin spielt für die Universität von Maine und kennt fast alle Gegnerinnen aus den Spielen der Hochschul-Division ECAC. Und das ist eine andere Dimension als die deutsche Bundesliga mit dem ERC Mannheim und der EC Bergkamen. „Die haben alle diesen schnellen Schritt drauf, den können wir nicht mitgehen“, gestand Stürmerin Julia Wierscher, mit 30 Jahren und 105 Länderspielen eine der Erfahrenen. Es klang zerknirscht.

Es war der Tag der Erklärungen – unter der fantastischen Kulisse von 9.000 Zuschauern, die zu einer Zeit, da normale Menschen zum Brunch gehen, minutenlang „Ju-Ess-Ey“ schreien und Amerika-Fähnchen schwenken. So etwas hatte keine der Eis-Aktricen jemals erlebt. Dieser nationale Spleen wird sich in den nächsten Tagen noch steigern. Und alle Welt wird erfahren, dass in den Staaten 40.000 weibliche Eishockeyspielerinnen registriert sind, fast genau so viele spielen unorganisiert und einfach in ihrer Freizeit auf zugefrorenen Seen. Und dass dieser Sport, logisch, in Nordamerika eine Kultur besitzt.

„Bei uns gibt es 2.500 aktive Spielerinnen“, berichtete hingegen Maritta Becker. Wer es wie die 20-Jährige aus Heilbronn dabei zu etwas bringen will, dem kann nur die Bundeswehr helfen. Acht der deutschen Spielerinnen haben sich im Rahmen des olympischen Sonderprogramms für zwei Jahre als Soldatinnen verpflichtet, Bundestrainer Rainer Nittel hat seinen Wohnsitz extra nach Füssen verlegt, um täglich in der Sportförderkompanie Sonthofen mit seinen Athletinnen trainieren zu können. Die Alternative hieße: Auslandsstudium in USA oder Kanada.

In Amerika entdecken die Scouts den Nachwuchs für ihr Goldteam mittlerweile schon landesweit an den Highschools. Und wenn sie ein Talent gefunden haben, spielen Altersgrenzen keine Rolle mehr. Torjägerin Natalie Darwitz debütierte bereits mit 15 im Nationalteam, die 16-jährige Verteidigerin Lyndsay Wall wurde im Sommer nach einer landesweiten Jugend- und Juniorenselektion direkt in den Olympiakader befördert. Seither war sie erst zweimal bei Mom und Dad.

Ob das Leben in der Fremde, in Camps und Hotels und fast ausschließlich unter Erwachsenen nicht schädlich sei für die Entwicklung dieses Teenagers, ist Chefcoach Ben Smith zuletzt mehrfach gefragt worden. „Das Mädchen hat viel mehr Angst hinter dem Steuer eines Autos, sie will ja gerade den Führerschein machen“, sagte er dann immer. Und wenn die Frager nachhakten, dann beendete er die Debatte mit der grundsätzlichen Replik: „Lyndsay ist geboren worden, um Eishockey zu spielen, basta.“ Das hatte schon früh auch deren Vater bemerkt. Weil die Fünfjährige so viel Energie besaß und sich ständig mit Jungs prügelte, gab er der Tochter einen Schläger in die Hand und schickte sie zum Eishockey: „Irgendwo musste sich die Kleine ja abreagieren.“ Was für ein Pech für die deutsche Mannschaft.