MILOŠEVIĆ’ VERTEIDIGUNGSSTRATEGIE IN DEN HAAG KANN ERFOLG HABEN: Riskantes Tribunal
Eins zu null für den Kriegsverbrecher. Slobodan Milošević hat sich gestern bei seinem Plädoyer vor dem UNO-Tribunal geschickt verteidigt, und das wird den Richtern noch Kopfzerbrechen bereiten. Wie selbstsicher waren sie doch noch vor Prozessbeginn aufgetreten: Chefanklägerin Carla del Ponte, die tonnenschweres Belastungsmaterial gesammelt hat, UNO-Generalsekretär Kofi Annan, der ein neues Zeitalter des Völkerrechts heraufziehen sah, und all die westlichen Politiker, die Milošević’ Auslieferung an das Tribunal in Den Haag gefordert hatten. Nun steht fest: Der gestürzte Diktator ist bereit zu kämpfen, er will auspacken und hofft, der Anklage noch manche Schwierigkeiten zu bereiten.
Milošević will unter anderem Verteidigungsminister Rudolf Scharping vorladen lassen und ins Kreuzverhör nehmen. Der gelernte Jurist wird auch die internationalen Balkan-Unterhändler vor das Weltgericht zitieren wollen, um deren und seine Rolle bei der Ausarbeitung des bosnischen Friedensabkommens von Dayton 1995 zu erhellen. Das wird für alle Beteiligten peinlich werden, denn seinen Gegenspielern galt Milošević damals als Friedensbringer auf dem Balkan. Niemand hatte ihm seinerzeit vorgeworfen, er habe vom Schreibtisch aus zum Genozid an den bosnischen Muslimen aufgerufen.
Doch genau dieser Vorwurf wird Milošević ja nun gemacht. Bei dem Mammutverfahren in Den Haag geht es längst nicht mehr nur um seine Beteiligung an Massenmord und Vertreibung. Nein, für den Westen ist Milošević heute der Kriegstreiber und Schreibtischtäter aller Balkankriege schlechthin. Dass er es gewesen sei, der systematische Vertreibungen und die Ermordung hunderttausender Zivilisten angeordnet hat, muss lückenlos und unanfechtbar bewiesen werden, wenn das Tribunal Erfolg haben will. Denn sollte es letztendlich an unumstößlichen Beweisen mangeln, dann wird nicht Milošević bestraft werden, sondern erneut die Opfer. Denn dann ist fraglich, ob ihnen je Gerechtigkeit widerfahren wird.
ROLAND HOFWILER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen