„Schandtat gegen ein ganzes Volk“

Milošević nimmt Stellung: Die wahren Gräuel auf dem Balkan waren die Nato-Angriffe. Dem UN-Tribunal gehe es nur um „Rache und Vorherrschaft“

von ROLAND HOFWILER

„Alles Fälschungen, alles Lügen“, rief der Angeklagte den Richtern zu. „Ihre Bosse haben Jugoslawien zerschlagen und jetzt sollen die jugoslawischen Völker die Rechnung dafür bezahlen.“ Der angeklagte Expräsident von Serbien und Jugoslawien nutzte gestern vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag die Gelegenheit, in seinem Einleitungsplädoyer auf die Vorwürfe der Ankläger zu antworten, die ihn in den ersten zwei Verhandlungstagen des Genozids und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt hatten.

Milošević sprach mehrere Stunden, zog immer wieder Dokumente, Bilder und Tagebuchnotizen zu Rate, um seine Sicht der blutigen Ereignisse darzulegen. Heute will er seine Erklärung fortsetzen. Im Mittelpunkt der Ausführungen gestern stand vor allem der Nato-Luftkrieg vom Frühjahr 1999 auf serbische Stellungen in der mehrheitlich albanisch-bewohnten Provinz Kosovo und auf Ziele in Serbien. „Das war eine Schandtat gegen eine ganze Nation, gegen ein ganzes Volk“, erklärte er erregt, um dann in ruhigem Ton fortzufahren: „Unsere Truppen haben nur den albanischen Terrorismus bekämpft, wie es sich für eine Armee gebietet.“

Der Mann im dunklen Anzug, mit einer Krawatte in den serbischen Nationalfarben blau, weiß und rot über dem weißen Hemd, wirkte ganz und gar nicht als der gebrochene und hilflose Mensch, als den ihn manche Berichte in der Zeit nach seinem Sturz schilderten. Selbstbewusst begann er zu erzählen, und er hatte aufmerksame Zuhörer. Kein einziges Mal unterbrach ihn das Gericht. Milošević wusste, es war sein großer Auftritt. Er hatte ihn zu nutzen. Er nutzte ihn.

Zum Auftakt seiner Verteidigungsrede ließ Milošević einen Beitrag des WDR-Magazins „Monitor“ vom Februar letzten Jahres präsentieren, in dem die Autoren behaupten, die Nato habe damals nur einen Vorwand gesucht – und mit dem „angeblichen Massaker von Račak“ an 45 Kosovo-Albanern auch einen gefunden – um Serbien aus der Luft bombardieren zu können (siehe unten). Milošević hatte damals immer wieder erklärt, seine Regierung werde alles unternehmen, um die Spannungen zwischen Serben und Albanern in der Kosovo-Provinz einzudämmen. Es seien jedoch die Verbände der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK, die mit immer neuen Attacken auf Polizeistreifen jeden Befriedungsversuch zu unterminieren suchten.

Vor Gericht wiederholte Milošević diese Darstellung und zitierte ausführlich aus seinen eigenen Reden, in denen er für ein „besseres gegenseitiges Verständnis zwischen Albanern und Serben“ geworben habe. Zentraler Gegenstand war für ihn auch das Buch des pensionierten deutschen Generals Heinz Loquai, der als Mitarbeiter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kurz vor dem Nato-Luftschlag angeblich Einblick in die Kommandostruktur Belgrads gehabt haben und aus internen OSZE-Quellen gewusst haben will, dass das serbische Regime keine Massenvertreibungen an Kosovo-Albanern geplant hatte. Laut Loquai hätte der Kosovo-Konflikt auch mit friedlichen Mitteln beigelegt werden können, wenn die Nato nicht eingegriffen hätte „und der Weg freigemacht worden wäre für den Krieg.“

Milošević kündigte an, Loquai und andere westliche Generale würden in den kommenden Monaten zu seinen Gunsten aussagen. „Viele westliche Politiker, Intellektuelle und Generale wissen“, so der Expräsident, „in einem Bürgerkrieg gibt es Schuldige auf allen Seiten, kann eine Regierung nicht jedes Verbrechen unter Kontrolle halten, geschehen grausame Dinge, aber dafür ist nicht ein einziger Mann verantwortlich und erst recht nicht die Führung eines Staates zur Rechenschaft zu ziehen.“ Weiter argumentierte Milošević, der Westen habe nur nach einem Vorwand gesucht, um selbst seinen Einfluss auf dem Balkan auszuweiten. Das Pech für die Serben sei dabei gewesen, dass sie zum „Sündenbock für alle Gräuel auserkoren wurden, wie zu Zeiten der Inquisition musste ein Schuldiger her und ein Land, das in die Steinzeit zurückgebombt werden konnte“.

Kein Hehl machte Milošević aus seiner Ansicht, dass es dem Westen und vor allem dem UNO-Tribunal mit dem Prozess gegen ihn nicht um die Aufarbeitung der „komplizierten Wahrheit auf dem Balkan“ ginge, um ein Verständnis der „Geschichte und nationalen Eigenheiten der Völker im südöstlichen Europa“, sondern um „Rache und Vorherrschaft“. Und zum Nato-Luftkrieg fällt Milošević’ Urteil klar und kurz aus: „Das schlimmste Verbrechen gegen das serbische Volk seit 1945.“